Start: Lindesnes (16.5.)
Ziel: Evje (20.5.)
Distanz: 127 km
Zeit: 5 Tage
Status: Endlich Frühling!
Losgehen kann man sich so vorstellen: Trommelwirbel, epische Musik, Weitwinkelaufnahmen und am farbigen Horizont eine spektakuläre Landschaft. Nur dass Trommeln, Musik und Weitwinkel fehlen und aus meiner Perspektive die spektakuläre Landschaft nicht zu sehen ist. Losgehen ist also sehr unspektakulär. Man nimmt einen Fuß und setzt ihn vor den anderen. Wer nicht aufpasst, verpasst den ersten Schritt vor lauter Routine. Losgehen verlangt also zumindest etwas Aufmerksamkeit.
Was man nie verpasst, ist die Umstellung vom Alltagsmodus in den Geh-(Alltags-)Modus. Die ersten Schritte sind noch aufregend. Endlich, endlich geht es los! Nach zwei ganzen Tagen Anreise, samt ausgefallenen Zügen (der McDonalds am Hamburger Hauptbahnhof ist von 11 bis 2 Uhr nachts ein sehr interessanter Ort, an dem es sich fein in die Abgründe des menschlichen Daseins blicken lässt ...) und drei Hitchhikes zum Startpunkt bin ich froh, ab jetzt meine eigene Herrin zu sein.
Am 16.5. stehe ich am wirklich ganz südlichsten Punkt von Norwegen, dem Nesvarden. Die Landzunge ragt noch ein paar Meter südlich des Leuchtturms auf Lindesnes ins Meer und präsentiert mit den stürmischen Wellen einen tollen Start. Ich schaue noch mal übers Wasser. Da bin ich gestern hergekommen. Ich hab' keine Ahnung, wie es sein wird, wieder dahin zurückzukommen, wann und wie es passieren wird. Meine Richtung ist jetzt die "Gegenrichtung". Also drehe ich mich um und mache den ersten Schritt.
Der Nesvarden
Das Beweisfoto am Leuchtturm
Ich lasse mir Zeit und freue mich über Sonnenschein bei perfekten Wandertemperaturen um die 15°. Während die Aufregung verfliegt, meldet sich der Kopf zu Wort. Er fragt schon nach 15 Minuten, was er denn mit der ganzen Zeit jetzt anfangen soll, wirft seine Jukebox an und wühlt erst mal ausgiebig im Musikrepertoire der letzten zwanzig Jahre (zu meinem Leidwesen). Er muss sich erst wieder daran gewöhnen, dass ab jetzt mein Körper der Chef ist und das Tempo vorgibt. Der Kopf ist es gewohnt, die ganze Zeit mit Informationen gefüttert zu werden oder sie zu produzieren. Beim Gehen, wenn er quasi nicht gebraucht wird, beschwert er sich mit Ungeduld und Langeweile. Da ich aber gute Erfahrungen mit meinem Kopf gemacht habe, wenn er genug Zeit für die Umstellung bekommt, bitte ich ihn, doch die Platte zu wechseln und statt "Fluch der Karibik" in Dauerschleife lieber Lieder von Tom Rosenthal zu spielen. Dann widme ich mich der Umgebung.
Die Aussichten
Der Süden Norwegens ist wenig durch Wanderwege erschlossen, und so laufe ich meistens auf Asphaltstraßen oder Staubpisten fast ohne Verkehr und oft erstaunlich schöner Umgebung. Die wenigen Häuser in den Tälern kann ich nicht immer eindeutig Ferienhäusern oder Wohnhäusern zuordnen. Sie sind oft ein lustiger Mix aus traditionell und modern: rot bemalte Holzwände mit weißen Rahmen, vor der Tür ein Traktor neben dem Tesla, und neben dem gepflügten Feld grast sich ein Mähroboter über den englischen Rasen.
Nur am zweiten und fünften Tag komme ich in den Genuss kleiner Waldwege. Dort geht sofort mein Herz auf. Deshalb bin ich hier! Am zweitem Tag teile ich mir geschwisterlich den Weg mit Blaubeersträuchern, moosüberwucherten Steinen und Zecken. Die Landschaft ist wunderschön und ändert sich ständig. Zwischen lichten Kiefernwäldern, steinigen Hochebenen und abgelegenen Seen lässt es sich ganz gut aushalten.
Endlich Natur!
Pause am Sandstrand, ganz für mich allein, natürlich mit einer Runde Schwimmen
Wildcampen mit Aussicht
Auch der vierte Tag wird noch mal ein Highlight. Auf einer Langlaufstrecke, die offensichtlich im Sommer wenig begangen wird, wandere ich durch eine beeindruckende Sumpflandschaft. Das Gras vom letzten Jahr liegt noch gelblich am Boden, darüber stacheln rote Heidesträucher hinaus, die einen perfekten Kontrast zu den Birken mit ihren jungen, hellgrünen Blättern bilden. Der Boden ist sehr nass, stehen bleiben sollte man hier nicht, aber die triefenden Schuhe sind mir bei dem Anblick egal. In solchen Gegenden fühle ich mich allein total wohl, ich bin ein Teil dieser riesigen Sumpf-Welt und gehe total darin auf.
Frühstücksstein im Sumpf mit Aussicht und weicher Moos-Yogamatte
Noch mehr Sumpf
Aussicht ins Setesdal
Auf den langen Hatschern dagegen lege ich mir auch mal einen Podcast auf die Ohren (siehe Tipp unten). Das hilft auch gegen das Gefühl, seltsam zu werden, wenn ich nicht in Kontakt mit Menschen bin ...
Abends suche ich mir Orte zum Wildcampen. "Allemannsretten" - das Jedermannsrecht - erlaubt es, auf öffentlichem Grund mindestens 150 m vom nächsten Wohnhaus zu zelten. Ich muss mir also keine Gedanken machen, erwischt zu werden. Trotzdem ist es zwischen Feldern, Sumpf und dichtem Gebüsch manchmal gar nicht so einfach, etwas Geeignetes zu finden. Das wird in den Bergen besser. Abends zwitschern die Vögel um die Wette, nachts staune ich immer wieder, wie viele Lebewesen wach sind und welche Geräusche sie machen: fiepen, knartzen, jammern, pfeifen ... Besonders im Wald ist die Nacht ein echtes Geräuschkonzert. Der Schlaf ist am Anfang noch unruhig, wird aber mit jeder Nacht besser, mag es an der Gewöhnung liegen oder der Erschöpfung. Eine Taschenlampe jedenfalls brauche ich nicht, hier ist es jetzt schon nachts dämmrig hell.
Mein Körper spielt zum Glück gut mit! Ohne Blasen oder Knieschmerzen zu gehen ist immer ein Luxus. Deshalb wage ich es bald, auf den langen Straßenabschnitten mehr Gas zu geben, um sie hinter mich zu bringen. So komme ich schon nach fünf Tagen einigermaßen entspannt in Evje an. Nur die Füße beschweren sich nach der langen nassen Strecke etwas. Zum Gesamterfolg der ersten Etappe hat bestimmt auch das Wetter seinen Teil beigetragen. Die ganze Zeit habe ich keinen einzigen Regentropfen abbekommen! Es war durchgehend angenehm kühl und auch die Sonne hat sich blicken lassen. Ich musste wohl erst nach Norwegen reisen, um den Frühling zu erleben. Nach einem Pausetag in Evje fühle ich mich deshalb noch nicht. Die warme Dusche ist allerdings ein Traum!
Das Alleinsein
Viele Menschen sehe ich bis Evje nicht. Nur einmal, am 17. Mai (dem Nationalfeiertag in Norwegen), kommt mir ein Pärchen entgegen, dekoriert mit vielen norwegischen Fähnchen. Wir tauschen uns kurz aus, und als sie von meinem Plan erfahren, lande ich gleich auf einem Selfie. Nur ein weiteres Mal habe ich einen kurzen Wortwechsel, ansonsten bin ich mit mir allein.
Das ist mental etwas anstrengend, der Kopf dreht sich im Kreis und ich habe manchmal Mühe, ihn auf der richtigen Spur zu halten. Aber für solche Erfahrungen bin ich hier, und ich feiere es nach dieser Etappe, fünf Tage nur mit mir verbracht zu haben. Wann hat man dazu sonst sie Chance?
Die Normalität
Besonders interessant finde ich die Beobachtung, dass die meiste Zeit einfach nicht viel los ist. Logisch, da draußen wechselt das Bühnenbild aufgrund des Gehtempos nur sehr langsam. Aber auch in mir bleiben sowohl die Hochs als auch die Tiefs aus. Mal ist da ein bisschen Freude über das Gehen und Unterwegssein, mal etwas Heimweh oder der Wunsch nach einer echten Unterhaltung. Ansonsten gibt es viel Leere, Zwischenraum, in dem nicht viel passiert. Es fühlt sich manchmal komisch an, diese "Zwischenstimmung" mitzubekommen, haben wir doch im Alltag viele Möglichkeiten, uns davon abzulenken. Hier bleibt sie teilweise für Stunden, eine Mischung aus friedlicher und bedrückender Stille. Es bleibt mir nur übrig, sie ohne Wertung anzunehmen. Schließlich werde ich sicherlich nicht vier Monate lang in der Emotions-Achterbahn sitzen.
The human pace
Ich habe mir die langsamste menschliche Reiseform ausgesucht. Je weniger Unterstützung durch tote Dinos (Kerosin, Benzin) oder eine effiziente Energie-Umsetzung (Fahrrad) geboten wird, desto eher nähern wir uns unserer eigenen Geschwindigkeit an. Ich bekomme alles mit, in meiner Umgebung, in mir. Ich habe Zeit, es an mir vorüberziehen zu lassen. All die Beobachtungen, das Losgehen, die Aussichten, meine Innenwelt würde ich mit einer schnelleren Geschwindigkeit nicht so erleben.
Der geniale Architekt und Stadtplaner Jan Gehl wirbt in seinem Lebenswerk für Städte, die nach „The Human Scale“, dem menschlichen Maß, gestaltet sind. Städte sollten nicht nur fußläufig sein, sondern such entsprechend gestaltet werden. Graue Häuserfluchten sind der Killer für jede Fußgängerin. Abwechslung muss an die menschlichen 5 km/h angepasst werden, nicht an die Geschwindigkeit von Autos. Analog dazu starte ich also hier einen Aufruf für das Reisen mit „The Human Pace“. Eine Reisegeschwindigkeit, die an das menschliche Erleben angepasst ist. Eine Geschwindigkeit, in der wir mitkriegen, was mit uns passiert, wenn wir unterwegs sind. Unser Geist ist langsam, er braucht die Zwischenräume, um zu verarbeiten, was geschieht. Wir brauchen dafür vor allem Langsamkeit. Denn wenn ich langsam bin, habe ich Zeit. Langsamkeit ist die Voraussetzung für Zeit, nicht andersherum. Und Zeit ist doch das, was wir uns alle so sehnlichst wünschen, oder?
Furz-Dämpfer
Soundtrack 1: Tom Rosenthal "Worries" ( https://m.youtube.com/watch?v=-Cip1wTysbI&pp=ygUVd29ycmllcyB0b20gcm9zZW50aGFs ) - wo "home" ist, kann ja variieren ... Die nächste Hütte, die erste Trailbekanntschaft, der nächste Supermarkt ... und irgendwann wieder ihr ;)
Und ein weiterer Tipp für die Ohren: der Weltwach Podcast Nummer 247: "Wandel im Himalaya – die ersten Opfer der Klimakrise" - mit Manuel Bauer (auf den gängigen Plattformen zu finden); ein tolles Interview über die Selbstorganisation einer Gemeinschaft in einer sich dramatisch ändernden Welt und welche Art von Hilfe wirklich etwas bewegt
PS.: Verzeiht, wenn die ein oder andere Ungereimtheit in Layout und Grammatik auftaucht, es ist mein allererster Blogpost vom Handy aus! Juhu!
In diesem See möchte ich auch gerne baden! War das Wasser wie in den bayerischen Seen oder kälter?
Langsamkeit ist die Voraussetzung für Zeit... sehr schön. Danke dafür!