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Kathi

Kapitel 12: Lauf-Flow durch Fluss und über Stein


Start: Umbukta (22.7.)

Ziel: Graddis (27.7.)

Distanz: 140 km (gesamt: 1541 km)

Zeit: 6 Tage (gesamt: 73)

Status: Gebirgs-Rennschnecke mit Hang zu spontanen Pausen



Ein wunderbarer Tag


Nach einem leckeren Frühstück inklusive Gemüse und einem Ei habe ich richtig Lust zu laufen. Für Nachmittag ist Regen angesagt, aber noch ist es trocken. Nur die Wolken hängen tief in den Bergen und es ist angenehm kühl. Nach etwas Wald wird es karg, immer steiniger und wilder. Endlich koste ich für längere Zeit das Gehen wieder richtig aus. Die Stimmung mit den wabernden Wolken, die blauen Seen, ein einigermaßen trockener Weg und reißende Gebirgsbäche – heute könnte ich bis zum Nordkap durchlaufen! Egal warum es gerade heute so läuft – ein Tag, der einfach mal nur schön ist, ist das größte Geschenk, das ich seit Langem bekomme!


Halt, irgendwas fehlt da doch noch ... Ach ja, genau: Sumpf! Der darf natürlich nicht fehlen. Und so sind die letzten Kilometer zur Hütte Kvitsteindaltunet seeehr nass. Heute verdirbt das meine Stimmung nicht. Auch der Regen, der kurz vor der Hütte einsetzt, ändert nichts daran. Ich kann ja alles trocknen. Und das in einer ultramodernen Hütte!


Dort mache ich es mir mit Ofen und Aussicht auf den Nieselregen vor dem Fenster so richtig hyggelig. Um 23 Uhr möchte ich fast schon ins Bett gehen, da wiederholt sich eine Situation, die mir irgendwie bekannt vorkommt. Aber statt zwei munterer, sehr nasser Frauen steht diesmal ein munterer, sehr nasser Franzose im besten Alter vor der Tür. Und er kommt mir irgendwie bekannt vor ... Nein, wirklich, es ist Hervé, mit dem ich vor fünf Jahren einige Tage lang in den Pyrenäen unterwegs war! Wahnsinn, dass wir uns hier wieder treffen! Er geht den NPL von Nord nach Süd und so können wir einige Infos über den Weg austauschen, bis ich hundemüde ins Bett falle.


Kurz vor dem höchsten Punkt auf dem Weg nach Umbukta


Die sehr moderne Hütte Kvitsteindaltunet


Regenbäche und Mückenhütten


Seit Längerem verspüre ich am Morgen eine Unlust loszulaufen. Die wird natürlich nicht kleiner, wenn es draußen immer noch nieselt. Das Stimmungs-Auf-und-Ab macht mir zu schaffen. Das Einzige, was immer hilft, ist: loslaufen! Die Bachquerungen sind nach dem Regen in der Nacht herausfordernd, machen aber Spaß – mit Schuhen und Regenhose im Strom stehen und mit den Stöcken das Gleichgewicht halten. Immer finde ich eine Stelle, an der die Strömung nicht zu stark ist. Trotzdem steht mir das Wasser mehrmals bis übers Knie.


Volle Bäche nach dem Regentag


An der Virvasshytta komme ich in den Hauptraum, in dem mich sofort Mücken in Schwärmen überfallen. Na toll! Da hat jemand vor mir zu lange gelüftet. Es scheint, als würde eine Art Mücken-Nebelmaschine in der Ecke stehen, die zuverlässig kleine Wölkchen an Mücken ausstößt. Den Abend über begehe ich einen Genozid vom Feinsten, inklusive Mordlust, und hoffe, dass das nicht auf mein Karma schlägt ...


Das Ganze wird erst besser, als ich am nächsten Tag nach 24 km von der Bolnahytta wieder aufsteige, um einen Camp-Spot zu finden. Ich hätte auch Hütten-Hopping machen können. Aber es leuchtet mir nicht ein, warum ich in einer Hütte schlafen soll, die direkt an der E6 liegt, der Hauptstraße nach Nord-Norwegen. Also geht es noch ein paar Kilometer Richtung Polarkreis, wo ich einen richtig schönen Camp-Spot finde, mit genug Wind für ein ruhiges Abendessen.


Hier fällt mir auf, dass es mir allein wieder sehr gut geht. Ich genieße es auf eine andere, neue Art, allein zu sein. Als hätte sich ein Knoten gelöst. Das Alleinsein ist kein Problem mehr. Niemals hätte ich das bei meinem zweiten Start gedacht!


Nun zeigt im Prinzip "nur" das Mückenbarometer mein Wohlbefinden an. Denn die Mücken sind sehr bestimmend. Sie sagen, wann und wo ich Pause machen kann und wie lange. Sie sagen, wo ich zum Baden anhalten kann und wo nicht. Sie sagen, wo ich campen kann und ob ich abends draußen sitzen kann. Sie bestimmen meine Tagesplanung, denn ich versuche, die Pausen entsprechend der Topographie zu planen. Möglichst nicht im Wald oder Sumpf, möglichst hoch, möglichst in Windrichtung. Sie nehmen mir viel von dem, was ich an den Zelt-Touren so mag. Abends vor dem Zelt dasitzen und einfach schauen, draußen eindösen. Egal, wie schön die Umgebung ist – mit Mücken macht das keinen Spaß!


Der Polarkreis und das Tal der Steine


Am nächsten Tag lasse ich mich die paar Kilometer zum Polarkreisl runterrollen. Dort gibt es Frühstück und die selbstverständlich notwendige Fotosession. Das Highlight des Tages ist aber überraschenderweise der Weg entlang der Bjøllåga. Das Tal, in dem ich mit einer Mückenseuche gerechnet habe, führt einen tief türkisblauen Fluss. Ich kann mein Glück nicht fassen, als ich über die Brücke gehe und beim Stehenbleiben keine einzige Mücke anziehe. Das muss gefeiert werden! Also ab ins Wasser! Unter der Brücke steht hierfür die perfekte Badestelle für mich bereit. Ich jauchze vor Glück mitten in diesem unwirklich blau gefärbten Wasser! Auch die Strecke zur Saltfjellstua wird schön, sie ist obendrein so gut wie mückenfrei. Ich komme in einen richtigen Lauf-Flow und beschließe kurzerhand, nach der Hütte wieder aufzusteigen, um im Tal der Steine zu zelten. Das Tal macht seinem Namen alle Ehre. Ich habe ganz vergessen, wie sehr ich Steine liebe. Ich hüpfe von einem zum anderen, finde eine steinfreie Zeltstelle mitten im "norwegischen Steinernen Meer" und bin sehr zufrieden. Heute habe ich gar nicht gemerkt, dass ich 32 km gelaufen bin.


Am Polarkreis angekommen!


Keine Mücken? Da muss man reinspringen!


Campen im Steindalen


Fullstopp auf dem Weg zum Paket


Ich hatte ja eigentlich geplant, meinen letzten Paketstopp in Graddis in einem langen Tag zu erreichen. Aber als ich mittags an der Lønstua eine Pause mache, empfängt mich dort Astrid. Die Hütte liegt ebenfalls ganz in der Nähe der E6 und sie ist von Oslo bis hierher getrampt. Wir verstehen uns schnell sehr gut und mein Plan, weiterzulaufen, gerät ins Wanken. Ich überlege hin und her. Schließlich finde ich keinen vernünftigen Grund, die Chance auf eine soziale Seelen-Streicheleinheit vorbeiziehen zu lassen. Also, Rucksack von den Schultern genommen und hiergeblieben. Es wird ein wunderbarer Nachmittag, mit tollen Gesprächen, einem Bad im nächsten türkisblauen Bach und einem Abend, an dem ich ganz unerwartet wieder daran erinnert werde, wie sehr ich das Beisammensein mit anderen Menschen vermisst habe. Die letzten Tage ging es mir gut allein. Ich habe mir selten jemand anderen herbeigesehnt. Erst hier fällt mir wieder auf, wie sehr ich immer noch ehrliche Gespräche, gemeinsames Lachen und das Teilen von Momenten brauche. Danke, liebe Astrid, dass du mir das geschenkt hast!


Auf zu meinen neuen Schuhen


Auf Graddis habe ich mich gefreut. Hier bekomme ich mein letztes Paket mit den dringend nötigen neuen Schuhen! Meine alten fallen ziemlich auseinander und das Gehgefühl kommt Barfußschuhen nahe ... Allerdings ist dies der erste Ort, an dem ich einen wenig herzlichen Empfang bekomme. Ich stelle mich vor und sage, dass ich ein Zimmer gebucht habe. Mürrisch geht die Frau nach hinten und prüft die Buchung. Die Frage nach dem Café, das auf der Website erwähnt wird, wird verneint. WLAN gibt es nur am Grillhaus, das Bad ist mit einem Zahlencode versehen und ich muss mich erst wieder auf die Suche nach der Frau machen, um duschen zu können. Sehr un-norwegisch, so ein Misstrauen mitten in der Pampa! Das ist alles okay, aber nicht den ordentlichen Batzen Geld wert, den ich für das Zimmer hier lasse. Ich fühle mich nicht richtig wohl und freue mich daher umso mehr auf meinen Pausetag in Sulitjelma. Davor geht es aber für mich die nächsten Tage durchs Junkerdal. Zumindest aber kann ich wieder auf Wolken mit meinen neuen Schuhen durch die Landschaft fliegen!


Aussicht Richtung Junkerdal, auf dem Weg nach Graddis


Alte Schuhe – neue Schuhe


Der Sturzbach des Lebens


Seit meinem Neustart bewegt sich schon wieder so viel. Manchmal ist es schwer, den Überblick zu behalten. Geht es mir jetzt gut oder schlecht? Wie in einem reißenden Strom wirbelt mich das Leben herum. Wie soll ich in dem Moment daran glauben, dass ich mal im Meer landen werde?


Ich fange langsam an zu verstehen, was vor ein paar Wochen passiert ist, als ich den Trail abge- bzw. unterbrochen habe. Heimweh, Einsamkeit sind nur Platzhalter für die Situation. Ich war zwei Monate lang immer wieder mit Hindernissen konfrontiert, sei es logistisch (Pakete, die nicht ankommen, Routenplanung ändern, nasse Zelte ...), emotional (allein sein) oder ganz praktisch (Mücken, Sumpf und Fliegen). Dabei hat mir etwas gefehlt, das mir Sicherheit und Entspannung schenkt. Ein bekannter Ort, eine Tätigkeit, ein Mensch, den ich gut kenne. Ich war die ganze Zeit auf Spannung, es gab keine Beständigkeit. Jetzt, im Nachhinein, frage ich mich, ob es Möglichkeiten gibt, diese auch im Inneren herzustellen. Kann ich mir selbst ein Netz schaffen, um in Zukunft unabhängiger von äußeren Umständen zu sein, wenn diese mal nicht passen?

Das kommt mir besonders schwierig vor, wenn gerade sowieso mein gesamtes Inneres über den Haufen geworfen wird. Das, vom dem ich denke, was und wie ich bin, wird in seine Einzelheiten zerlegt und widerlegt. Es ergeben sich Chancen. Ich kann Puzzleteile hinterfragen und ersetzen. Es gibt einen Raum, die Vorstellung meiner Persönlichkeit neu zusammenzusetzen. Bin ich die, die bis zum Schluss kämpft? Bin ich die, die vorher aufgibt? Das sind Fragen, die ich in diesem Raum nicht mehr beantworten kann. Ich habe keinen Leitfaden mehr, der sich aus meinen Glaubenssätzen, aus der Vorstellung meiner Persönlichkeit ergibt. Sie werden beantwortet durch meine Entscheidungen hier vor Ort. Und selbst dann machen sie mich nicht zu einem anderen Menschen. Ich bin nicht mehr definiert durch das, was ich denke zu sein. Ich erlebe meine Entscheidungen getrennt von meiner Vorstellung von mir selbst. Damit habe ich die Möglichkeit, mich zu verändern. Denn ich mache meine Entscheidungen nicht mehr abhängig von früheren Entscheidungen, die das Bild geschaffen haben, das ich von mir habe. Auf eine ganz besondere Art schenkt mir diese Situation also Freiheit. Die Freiheit, mich selbst neu zu definieren. Oder, noch besser, mich von (zumindest einigen wenigen) Definitionen zu befreien.


Álvaro de Campos (Fernando Pessoa) sagt dazu:

Ich bin nichts.

Ich werde nie etwas sein.

Ich kann nicht einmal etwas sein wollen.

Abgesehen davon trage ich in mir alle Träume der Welt.



Trailsound 12: Tash Sultana "Blackbird" (https://youtu.be/zYZeF26fO68) – ein Song aus dem Album mit dem passenden Namen "Flow state"

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