Start: Storlien (2.7.)
Ziel: Gaundalen (6.7.)
Distanz: 136 km (gesamt: 1183 km)
Zeit: 5 Tage plus 1 Pausetag (gesamt: 53)
Status: im Sumpf des Lebens
Mit der Überschrift ist eigentlich schon das Allermeiste über die letzten fünf Tage gesagt. Da ich aber eine Labertante bin, kommt hier doch noch die etwas genauere Ausführung:
Sumpf, Tag 1
Morgens wache ich müde auf und habe wenig Lust loszugehen. Auch der Weg ist heute anstrengend. Er ist schlammig und oft weniger rutschig, wenn ich daneben gehe. Sumpf ist überall gleich viel, keine 10 Minuten bleiben meine Schuhe trocken. Ich laufe quer zum Gletscherschliff: viel auf und ab, dazwischen Einschnitte mit Bächen, die teils noch schneebedeckt sind. Öfter muss ich Umwege laufen, um unsichere Schneebrücken zu vermeiden. Damit sammle ich ordentlich Fleißmeter. Und heute geht es mal wieder bergauf. Also, das norwegische Bergauf. Ein steiler Hang und der Weg einfach geradeaus hoch. Ein sehr kurzer Aufenthalt auf dem windigen Gipfel des Synnerklumpen mit wunderbarer Aussicht, dann komme ich endlich in den Genuss, diese Wege bergab zu erkunden. Ich wähle die Schlammlawinentaktik: Geradeaus runter, möglichst großflächigen Bodenkontakt und keine Rücksicht auf Sauberkeit. Die B-Note lassen wir mal beiseite, aber zumindest komme ich sicher unten an.
Man kann nicht untenrum ..., man kann nicht obenrum ..., man muss weeeeeeit außenrum!
Die letzten vier Kilometer zur Angeltjønnhytta quäle ich mich durch reinen Sumpf. So lange Sumpfstrecken ermüden. Weil man so tief einsinkt, ist jeder Schritt ein Kniehebelauf bei dem man jedes Mal die Füße (möglichst inklusive Schuhwerk) aus dem Schlamm ziehen muss. Es fühlt sich an wie bergauf steigen. Vor allem mein Kopf hat darauf heute gar keine Lust und beschwert sich ausgiebig. Da ich heute eh schon nicht so gut drauf bin, fällt es mir schwer, das auszuhalten. Gut, dass ich noch nicht weiß, was die nächsten Tage auf mich zukommt. Ich freue mich, als endlich die Angeltjønnhytta in Sicht kommt.
Der Weg geht weiter durch den Sumpf, und als ob das noch nicht genug wäre für diesen Tag, meldet sich mein Knie mal wieder. Mit der Bandage geht es ganz gut. Die nächste Challenge ist also mal wieder, mich zu bremsen ...
Manchmal frage ich mich, ob ich undankbar bin. Der Weg ist mir zu nass, die Sonne zu heiß, die Mücken zu viel. Einerseits kommt es mir vor, als würde der Weg dafür sorgen, dass ich zuverlässig immer mit etwas anderem kämpfen muss. Gebüsch, Hitze, Sumpf, Matsch, Mücken, Fliegen (Dauerregen würde noch fehlen, der kommt bestimmt zur rechten Zeit ...). Es gibt so wenige Strecken, auf denen ich einfach vor mich hin gehen kann. Auf meinen Durchquerungen in den Pyrenäen hat sich das seltener so angefühlt, obwohl die Wege schroffer und anspruchsvoller waren. Gleichzeitig weiß ich, dass es wenig Sinn macht, mich für meine Gedanken darüber zu verurteilen. Was mich wieder zu der Frage führt, wie viel Kontrolle wir denn überhaupt darüber haben können, wie wir Dinge wahrnehmen und wie wir sie bewerten. Könnte ich den Weg mit besserer Stimmung laufen? Oder muss ich da einfach durch, durch den Ärger, die Flüche, die gelegentliche Verzweiflung?
Sumpf, Tag 2
Am nächsten Morgen fühle ich mich körperlich deutlich besser. Und ruhiger, weil ich weiß, was auf mich zukommt. Die Temperaturen sind inzwischen auf meine Lieblingsrange zwischen 10 und 15 Grad gesunken, was bei dem drückenden Wolkenwetter sehr angenehm ist. Der Tag wird wirklich ein einziger Sumpftag. Ich staune, wie weit diese vollgesogenen Landschaften sein können. Es geht durch etwas Wald und sanfte Hügel auf und ab, die Aussichten zwischendrin sind gar nicht so übel. Jede kurze Strecke über Felsen oder trockenen Waldboden wird ausgiebig gefeiert. Ansonsten? Ich übe mich in Mantras ("Egal, wie der Weg ist, ich setze friedlich einen Fuß vor den anderen"...).
Hier ein durchschnittlicher Schritt auf meinem Weg; jetzt weiß ich auch, warum die kleinen Gamaschen 'dirty girl gaiters' heißen ...
Wer geht hier denn freiwillig entlang?! Oh, ich. Gegen Mittag ist der Punkt erreicht, an dem meine Gedanken nicht mehr bei jedem Schritt durch den Matsch meine ach so leidige Situation bedauern. Und siehe da, es passiert etwas. Ich fange an, mich umzuschauen. Ich sehe die rundgeschliffenen Felsen zwischen dem Sumpf. Fast kann ich hören, wie hier jahrtausendelang das Eis über den Fels gekratzt hat. Dazwischen wachsen immer wieder bunte Blumen. Ich höre das Gurgeln der Bäche und freue mich darüber, so viel frisches Trinkwasser zu haben.
In einem Bachgraben flitzt plötzlich etwas Flauschiges nach unten. Vorsichtig bleibe ich stehen und scanne den Bach. Tatsächlich, da sitzt eine Art Wiesel und schaut mich aus großen Augen an. Und zack, ist es wieder weiter. Es gibt so viele Vögel hier. Die spitzen Rufe der Regenpfeifer in der offenen Landschaft ersetzen die Kuckucksrufe im Wald. Sie trippeln mit staksigen Beinen über die Ebene und schwingen sich dann in die Lüfte. Ein Vogel müsste man hier sein ...
Mit Verwunderung fällt mir auf, wie diese Landschaft, besonders die Klänge, mir inzwischen eine Art Vertrautheit schenkt. Dieses Gefühl habe ich hier so oft vermisst. Es gibt mir ein klitzekleines Gefühl von Geborgenheit. Meine Gedanken werden leichter. Wenn sie sich doch mal wieder mit der Schlonze unter meinen Füßen beschäftigen, dann auf ironische Weise. Sie dichten Liedtitel um ("Dieser Weg ... wird kein leichter sein ..., dieser Weg ... wird schlammig und nass" oder "I'm on a hiiiiighway through bog!") oder überlegen, welche Abkürzung sich hinter SUMPF verbergen könnte (super unnötiger, matsche-pampiger Fiesling?).
Und wie ich so dahindichte, wandelt plötzlich ein riesiges Tier vor mir auf dem Weg dahin. Zuerst bin ich mir sicher: Bei der Größe kann es nur ein Elch sein. Vermutlich aber ist es "nur" ein außergewöhnlich großes Rentier. Es muss mich bemerkt haben, denn es hat sich umgeschaut. Trotzdem trottet es gemächlich auf die nächste Lichtung. Sicherlich hat es gesehen, dass ich mich nicht gerade geschmeidig durchs Unterholz bewege und keine Gefahr darstelle. Eine gefühlte Ewigkeit kann ich es beobachten und über sein riesiges Geweih staunen. Es schaut mich an und ich es und wir haben beide keine Angst. Es ist so ruhig, dass ich es wage, meine Kamera herauszuholen. Das Tier wartet geduldig und lässt sich stolz auf seinem Laufsteg aus Sumpf und Wollgras ablichten. Und schon wieder ist er da: einer dieser Momente, für die sich alles lohnt. Manchmal muss man dafür tagelang durch Sumpf stapfen.
Elch oder Rentier? Beeindruckend und berührend in jedem Fall
Hätte mir vor einem guten Monat jemand gesagt, dass ich mich mal so richtig auf Teerstraße freuen werde, hätte ich ihn ausgelacht. Heute aber jubeln meine erschöpften Beine, als endlich Asphalt in Sicht kommt. Vier Kilometer darf ich bis zur Bellingstua einfach so einen Fuß vor den anderen setzen. Nicht waten, nicht stolpern, nur gehen! Es fühlt sich so ... einfach an! Mit Parra for Cuva auf den Ohren bin ich im Nu da.
In der idyllischen Hütte mache ich es mir gemütlich. Und als es dann auch noch zu regnen anfängt, beschließe ich, heute das Zelt nicht aufzubauen.
Beim Einschlafen wache ich noch mal kurz auf, weil mein Bein zuckt, als es denkt, es muss einen Schritt über ein Sumpfloch abfangen. Dann schlafe ich tief und fest ein.
Die Bellingstua
Sumpf, Tag 3
Die ersten Kilometer am nächsten Tag liegen doch tatsächlich Holzplanken aus! Ganz frisch verlegt, sauber über jede sumpfige Stelle gelegt. Welch eine Freude für meine Füße! Dann muss ich aber ziemlich plötzlich wieder in den Sumpfmodus schalten.
Ich und mein Holz
Nachmittags soll es regnen, also bin ich sehr früh dran. Ich treffe zwei Jungs aus Schweden, Gustav und Oskar, wie die schwedischen Könige. Sie machen eine fünftägige Entdeckungstour durchs Skjækerfjellet. Eine knappe Stunde teilen wir den Weg und die üblichen Fragen, dann verabschieden wir uns.
Ein schnelles Selfie mit Gustav und Oskar – ich bekomme Übung im Selfies machen ;)
Die kurze Abwechslung hat gut getan und ich gehe weiter, bis um kurz nach drei die ersten Tropfen fallen. Eine geeignete Stelle für mein Zelt im Sumpf zu finden, das ist nicht so leicht hier, doch auf einem kleinen Hügel werde ich fündig.
Mein Häuschen
Eine halbe Stunde regnet es, dann hört es auf. Angesagt war mehr, aber ich bin irgendwie froh, so viel Zeit zu haben. Ich schlüpfe aus dem stickigen Zelt, sitze da und schaue über die Hügel und die schwer darüber liegenden Wolken.
Die ganzen letzten Tage hat meine Kopf viel Gedanken gewälzt, vor allem in den Pausen. Hier kommt er mal zur Ruhe. Vielleicht bahnt sich so eine Art erste Sinnkrise an? Meine Stimmung ist seltsam. Friedlich, aber auch traurig. Mit einer Art Leere, wenn ich an die nächsten Tage denke. Warum wollte ich noch mal vier ganze Monate lang laufen? Erst langsam, Schritt für Schritt, wird mir die Dimension dieser Zeitspanne bewusst. Ich bin froh, dass das bei der Planung nicht vorstellbar war. Sonst hätte ich vielleicht gar nicht angefangen. Jetzt bin ich hier, mittendrin. Es fühlt sich lange an. Ich fühle mich langsam. Ich bin meilenweit davon entfernt, über das Aufgeben nachzudenken. So schnell geht es nicht. Aber da ist immer wieder die Frage, warum es denn so lange sein muss? Die einfachste und vielleicht wahrste Antwort darauf ist, dass ich noch so viel zu lernen habe. Es gibt noch so viel zu erleben. Gutes und Herausforderndes. Ich brauche diese Zeit. Und manchmal brauche ich wohl auch die Sinnlosigkeit.
Überhaupt glaube ich, dass das Warum manchmal Zeit braucht. Vor der Tour habe ich natürlich ein Warum, einen Antrieb. Aber der löst sich unterwegs manchmal auf, verändert oder verschiebt sich. Dann entstehen diese Löcher, in denen alles plötzlich keinen Sinn mehr macht. Dann bin ich nicht mehr auf der Suche nach einer Antwort, sondern überhaupt erst mal nach der richtigen Frage.
Sumpf, Tag 4
Ich wache mit Heimweh auf. Nicht so wie bisher, nicht so ein unkonkreter Wunsch nach etwas Gesellschaft. Sondern mit dem ganz konkreten Wunsch, bekannte Gesichter zu sehen. Von einem geliebten Menschen in den Arm genommen zu werden. So konkret hatte ich das auf dieser Tour noch nicht.
Der Tag heute fällt mir schwer, obwohl er kürzer ist als die vergangenen. Sinnkrise und Heimweh sind keine guten Motivationsgeber. Als ich dann beim Abstieg im Schlamm ausrutsche und mich im Matsch auf meinen Hintern setzte, brechen die Dämme. Es ist nichts passiert, ist mein erster Gedanke. Der Zustand meiner Hose kann nicht noch dreckiger werden. Aber trotzdem. Es passiert die ganze Zeit. Jeden Tag denke ich daran, wie es sein wird, heimzukommen. Ich muss Pause machen, bis der Regenschauer aus meinen Augen vorbei ist. Ich laufe gegen die Sinnlosigkeit an. Mir hilft ein einziger Gedanke: Ich gehe. Ich bewege mich. Etwas bewegt mich. Ich stehe nicht still. Und damit bleibt die Hoffnung, dass auch diese Zeit vorbeigeht.
Die letzten Kilometer zur Hütte hilft nur ein Podcast. Einmal am Tag nicht in meinen Gedanken versumpfen (ha ha, wie passend ...). Wie es wohl ist, zu zweit zu laufen? Jemanden zu haben, der einen auf andere Gedanken bringt?
Tatsächlich habe ich doch Glück und treffe an der Setertjønnhytta ein Ehepaar aus Berlin. Mein Redefluss will nicht aufhören, er hat sich schon wieder über Tage angestaut. Moni und Dirk sind aber sehr interessiert und vor allem Dirk kennt die emotionalen Aufs und Abs von Solo-Reisen selbst von Fahrradtouren. Und doch merke ich, heute reicht das Gespräch nicht für meinen Seelenfrieden. Ich brauche eigentlich eine Umarmung. Keinen Smalltalk.
Der Mittelpunkt der Wel... äääh, Norwegens (Der ist auf verschiedene Weisen bestimmbar! Hier wurde die Landfläche als Anhaltspunkt genommen: Würde man Norwegen hier auf eine Stecknadel aufpieksen, würde es nicht herunterfallen. Zumindest in der Theorie ...)
Mit Moni und Dirk bei der Setertjønnhytta
Sumpf, Tag 5
Der letzte Tag verlangt mir noch mal einiges ab. Aber ganz anders als gedacht: Mehr oder weniger weglos geht es in 25 km nach Gaundalen. Komoot kennt einen Weg, aber auf einer großen Karte vor der Hütte kommt mir der Verdacht, dass es eine Winterroute ist ... Die Höhenlinien allerdings versprechen ein gangbares Gelände und ein kleiner Weglos-Test vor dem Blåfjellet kann nicht schaden. Und ganz ehrlich: Kann es noch unzugänglicher werden als in den letzten Tagen?
Moni hat gestern den Anfang meines heutigen Weges ausgecheckt und meinte, er fängt mit Holzbohlen an. Ich wandle heute also freudig auf dem Holzsteg dahin, bis ich merke, der geht gar nicht in meine Richtung! Also 300 m wieder zurück, um festzustellen, dass der Weg geradeaus mitten in den Sumpf führt. Oh mei. Egal ...
Die angenehme Zeit der einwandfrei markierten DNT-Routen ist hiermit vorbei. Trotzdem ist tatsächlich eine Winterroute markiert, erkennbar an den 2-3 Meter hohen Holzstecken, die in kurzen Abständen in die Landschaft gesetzt wurden. Das war die letzten Tage manchmal auch schon so. Hier aber denkt die Winterroute wohl nicht die Sommerwanderungen mit. Und so quere ich erst mal einen knietiefen Bach. Guten Morgen!
Was dann kommt, finde ich sehr beängstigend: Ich laufe durch ein Stück Sumpf. Der Boden ist irgendwie noch wabbeliger als sonst. Und plötzlich mache ich einen Schritt ins Nichts. Da ist kein Widerstand mehr im Matsch! Panisch ziehe ich den Fuß gerade noch rechtzeitig zurück, kurz danach den Stecken, der schon halb im Matsch steckt. Hier kann man echt versumpfen, und zwar auf eine gefährlich wörtliche Weise! Ich laufe ziemlich erschrocken erst mal auf ein festes Fleckchen Erde zurück, um mich zu beruhigen. Ab jetzt finde ich Sumpf nicht nur nervig, sondern habe auch Angst davor.
Nach dieser Adrenalin-Dusche auf dem ersten Kilometer finde ich nach reichlich Suche und einer weiteren Flussquerung wirklich so etwas wie einen kleinen Pfad. Es geht weiter durchs Nass, bis ich in einen Wald komme. Meine Beine mögen das nicht so, aber das Gestrüpp mag meine Beine. Die Orientierung klappt erstaunlich gut, obwohl sich der Pfad verliert. Alle 100 m checke ich meine Route auf dem Handy. Es ist gar nicht so leicht, ohne Sicht in die richtige Richtung zu laufen! Besser wird es, als ich die Baumgrenze erreiche. Mit freier Sicht fühle ich mich nicht nur wohler, sondern kann auch anhand von Flusslauf, Seen und Geländeform besser der Nase nach laufen. Auch hier finde ich plötzlich wieder einen kleinen Weg.
Nach einer Weile mache ich Pause an einem See im Nichts. Da kreischen ein paar Möven – immer noch ein ungewöhnlicher Sound für meine Ohren hier mitten in den Bergen. Da schwimmt eine Entenmama mit vielen Entenbabies auf dem Wasser. Da sind ein Fleckchen blauer Himmel und große weiße Wattewolken. Da ist ein kräftiger Ostwind und ausnahmsweise mal kurz keine Mücke oder Fliege. Ich kann einfach auf dem Felsen sitzen und schauen. Es ist ein Moment des Friedens in Tagen, die mir vieles abverlangen. Wenn die Landschaft groß ist und weit, werde ich klein und unwichtig. Dann verschieben sich Dimensionen, werden zurechtgerückt wie bei einem großen, stummen Erdbeben. Dann rückt das Heimweh an seinen Platz, macht es sich gemütlich unter einem der Kratzbäume und findet seinen Frieden. Hier sehe ich für einen Moment ganz klar, in welchem Verhältnis meine kleine innere Welt, meine Probleme, Kämpfe, Sehnsüchte und Träume, zur großen äußeren Welt steht. Und auch, wenn ich nicht alles verstehe, hier hat es seinen Platz.
Ich fühle mich aufgetankt nach diesem Erlebnis und kann die Wegsuche im nun felsigen Gelände richtig genießen. Weite Steinplatten wechseln sich ab mit Gras oder Sumpf, dazwischen gurgeln überall Bäche. Die Mittagspause verbringe ich auf einem großen Stein mitten in einem Bach, mit Aussicht ins nächste Tal. Es sind nur noch 11 km bis Gaundalen. Dass die kein Spaß werden sollen, weiß ich zum Glück in der Pause noch nicht.
Steinlandschaft
Schon die letzten Tage habe ich Bekanntschaft mit diesen grässlichen fetten Fliegen gemacht, die beißen wie Bremsen, aber deutlich größer und wendiger sind. Die Natur denkt sich zuverlässig immer neue Dinge aus, damit wir uns nur nicht allzu wohl in ihr fühlen oder gar den Aufenthalt genießen könnten. Schon vor der Pause habe ich versucht, windarme Ecken zu vermeiden. Beim Abstieg aber kommt fast kein Wind mehr auf. Die Biester kreisen um mich, als wäre ich das rote Pferd. Immer mehrere gleichzeitig, sie klingen wie Hummeln, können aber richtig zwicken. Mein Versuch, schneller zu gehen, um vor ihnen wegzulaufen, ist natürlich genauso zwecklos wie bei Mücken. Nur, dass bei Mücken wenigstens Myggmelk hilft. Hier habe ich keine Chance. So was macht mich total verrückt und aggressiv! Ich fuchtle um mich, stolpere vor mich hin, schlage auf meine Arme und Beine, wenn sie mich zwicken, kann keine Sekunde stehen bleiben, ohne umzingelt zu werden. Muss also im Laufen mit dem Handy navigieren. Auch den Wutanfall samt folgender Verzweiflung muss ich ins Gehen verlagern. Und dann finde ich den Weg nicht, der doch hinter dem Bach anfangen sollte! Ich stolpere durch die Landschaft, immer auf der Flucht, bis ich endlich wieder einen kleinen Pfad finde.
Vom Weg bekomme ich nicht viel mit. Ich glaube, er hätte mir gefallen. Ich glaube, es waren bunte Blumen an seinem Rand, in gelb und lila. Ich glaube, es war ein trockener Waldpfad, so einer, wie ich ihn mir so lange gewünscht habe. Es waren sechs Kilometer, die ich einfach nur von Fliegen umzingelt dahingestolpert bin. Körperlich und mental total abgekämpft komme ich beim Gaundalen Fjellgård an.
Eine Oase im Nichts für die Seele
Man muss wissen: Gaundalen ist kein Ort. Es ist ein winziger Hof, der abgeschiedener nicht sein könnte. Auf einem Forstweg kommt man nach 6 km zu einem See. Eine halbe Stunde über den See auf die schwedische Seite, dann 1,5 Std. mit dem Auto ... und schon erreicht man die nächste Einkaufsmöglichkeit ... Entsprechend kommen hier nur alle paar Tage mal Menschen vorbei, hauptsächlich Wander*innen auf Langstreckenrouten oder Fischer*innen. All das erfahre ich von den zwei alten Schwestern, die den Laden schmeißen. Zwei raue, freundliche und aufgeweckte Frauen, die gerne einen Tratsch mit mir halten. Sie begrüßen mich und fragen als Erstes nach den Fliegen. Für mich nicht nur endlich verdientes Mitleid, sondern auch die Bestätigung, dass ich mir das Ganze nicht nur einbilde. Wenn selbst die davon reden, die hier täglich davon umgeben sind, muss es gerade wirklich zugehen.
Freudig nehme ich mein Paket in Empfang und wasche mir dann erst mal den Dreck von elf Tagen ohne Warmwasser ab. Wunderbar! Nach dem Duschen fühle ich mich fast wieder wie ein Mensch (siehe Exkurs unten). Ich mache mir Nudeln mit selbst gemixter Currysauce aus meinem Paket. Das passt eh nicht alles in den Rucksack. Ich weiß nicht mehr, was ich mir beim Packen gedacht habe. Wahrscheinlich nicht viel mehr als "Hunger!".
Die zwei Frauen zeigen mir ihr Gästebuch mit vielen NPL-Wanderer*innen, die hier vor mir vorbeigekommen sind. Sie haben auch das NPL-Buch von Simon Michalowicz da. Und so lande ich abends im Bett und lese erst mal eine Runde. Langsam füllen sich die Batterien wieder, die Verzweiflung weicht Entspannung und einer vorsichtigen Zuversicht, dass ich das schon auf die Reihe kriegen werde.
Dankbar bin ich um meine Füße, die in den vielen Tagen Dauerbad nicht eine einzige Blase bekommen haben. Überhaupt macht mein Körper gut mit. Das Knie hat sich bis auf das kurze Mal nicht mehr gemeldet.
Und wieder kommt der Gedanke, der schon oft Situationen erträglich gemacht hat: Ich kann gehen. Ich kann einen Fuß vor den anderen setzen. Und solange ich das kann, komme ich meinem Ziel näher. Solange ich gehe, ist alles gut. Damit ist alles andere irgendwie zu ertragen. Und je länger ich darüber nachdenke, desto mehr wird dieser Fakt zu einem großen Glück. Wenn das das Fazit der letzten fünf Tage ist, kann ich mich nicht beschweren.
Exkurs: Das Wesen
Die Spezies Wesen (Homo sapiens animalis) ist ca. 1,50 bis 1,90 m groß, und vorwiegend in natürlicher Umgebung zu beobachten. Es haust in synthetisch hergestellten, hüfthohen Gebilden, die es jeden Abend an einem anderen Platz aufbaut und tagsüber in einer großen Tüte auf dem eigenen Rücken trägt.
Im Aussehen ähnelt das Wesen dem Menschen. Allerdings riecht es deutlich strenger, meidet Zivilisation und ähnelt in seinem Verhalten eher den anderen Tieren seiner Umgebung: Es wäscht sich bevorzugt in Fließgewässern und besitzt eine ausgeprägte Aufmerksamkeit für seine Umgebung.
Gelegentlich erscheint es an Orten, an denen Duschen vorhanden sind. Duscht sich ein Wesen, ist es äußerlich kaum mehr vom Menschen zu unterscheiden. Erfahrene Wesens-Beobachter*innen jedoch erkennen es anhand feiner Unterschiede, etwa dem Abwischen des Bestecks an der Hose oder der weiterhin streng riechenden Kleidung des Wesens nach dem Duschvorgang.
Eine besondere Verhaltensauffälligkeit zeigt es, indem es täglich weite Strecken zurücklegt. Der Zweck dieser Verhaltensweise ist noch nicht abschließend geklärt. Es wird aber vermutet, dass komplexe Zusammenhänge zwischen Psychologie und Körper es dazu antreiben, der Nahrungssuche in besonders kargen Gebieten der Zivilisation nachzugehen. Einzelne Fallstudien legen nahe, dass eine umständliche Nahrungssuche gemeinsam mit viel Bewegung und widrigen Wetterbedingungen zu einem ungewöhnlich hohem Anstieg des Endorphinspiegels führt.
Die meisten Wesen sind Einzelgänger*innen, manche bevorzugen das Leben in Paaren. Begegnen sich mehrere Wesen, kann es jedoch zu größeren Ansammlungen kommen, die meist durch ausrüstungstechnische und tiefenphilosophische Austausche geprägt sind.
Die Art des Wesens ist wild und zäh. Es gibt sich genügsam, zeigt jedoch beim seltenen Besuch von Supermärkten seine gierige Seite.
Möchte man das Wesen anlocken, ist jede Art von Essen dafür geeignet. Doch Achtung, der dadurch ausgelöste Heißhunger kann Plünderungen hervorrufen! Alternativ kann man dem Wesen von großen Abenteuern erzählen, wodurch es zahm, zugänglich und gelegentlich auch anhänglich wird.
Trailsound 9: Linkin Park "Until it's gone" (https://youtu.be/Nym1P-BO_ws) – zum Dampf-Ablassen
Hallo Kathi, mit großem Interesse verfolge ich deinen Blog und finde ihn auch sehr schön geschrieben! Wir sind uns kurz bei der Ravnejuv begegnet. Dort war ich mit meiner Familie. Vielleicht schaffe ich es irgendwann auch einmal - dieses Abenteuer anzugehen.
Respekt vor deiner Leistung! God tur og lykke til! Stefan
Das große Tier mit dem Geweih ist übrigens vermutlich doch eher ein Rentier gewesen. Ich bestimme in Zukunft lieber wieder Vögel! 😆