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Kathi

Kapitel 8: Ladies time und Schmuddelwetter

Aktualisiert: 14. Juli 2023

Start: Røros (26.6.)

Ziel: Storlien (1.7.)

Distanz: 135 km (gesamt: 1047 km)

Zeit: 1 Pausetag + 6 Tage (gesamt: 47)

Status: Social Club Scandinavia


Aller guten spontanen Pausetage sind drei


Wird das etwa eine Gewohnheit auf dieser Reise? Spontaneität? Tiefenentspannung!? Bei mir?! Morgens habe ich schon meinen Rucksack gepackt und sitze mit Marlis und Barbara beim Frühstück. Es ist schon spät. Es ist sehr schön mit den beiden. Heute soll eine NPL-Wanderin am Campingplatz ankommen. Und Marlis besitzt gute Überredungskünste. Und zack, bleibe ich eine weitere Nacht! Ich weiß inzwischen, dass ich diese Entscheidung nicht treffe, weil ich Angst habe, allein zu sein. Welch eine Freiheit steckt in dieser Erkenntnis! Viel eher geht es mir darum, mich meiner inneren Unruhe zu stellen, die mir erzählt, dass ich möglichst bald zurück sein sollte, wo alle lieben Menschen auf mich warten. Die mich nicht rasten lässt. Ich will lernen, zur Ruhe zu kommen. Zu verweilen. Ich will auch lernen, woanders glücklich zu sein, obwohl ich Menschen vermisse. Deshalb bleibe ich noch einen Tag. Vielleicht werde ich auf dieser Tour doch noch tiefenentspannt!


Mit Barbara und Marlis habe ich mal wieder einen Volltreffer gelandet, was coole Menschen angeht! Wir laufen eine Runde durch das sonntags sehr schläfrige Städtchen Røros, schauen uns das Museum über die Geschichte des Kupferabbaus an. Dreckige Angelegenheit, das mit der Metallherstellung ...

Nachmittags stößt Linn mit ihrem Hund Paras (das samische Wort für Freund) zu uns. Linn ist 21 Jahre alt und kommt aus Norwegen. Sie will dieses Jahr die Hälfte des NPL laufen und nächstes Jahr den Rest. Der Tag füllt sich mit lockeren und tieferen Gesprächen, die ich allesamt aufsauge. Wir gehen gemeinsam essen und holen dann alle eine Mütze Schlaf nach, die gestern zu kurz kam.


Vier Beine, vier Pfoten


Linn und ich haben für die nächsten Tage dieselbe Stecke vor uns und wir sind beide sehr dankbar, endlich den Weg mit jemandem teilen zu können. Wir verstehen uns gut und es ist super, auch mal über "Frauenthemen" zu reden - vom Wandern und Zelten allein als Frau bis hin zu Beziehungen ... und vielem mehr. Vor allem die Pausen sind zu zweit so viel schöner! Und ich fühle mich weniger angespannt. Ich kann mich bei Entscheidungen mit jemandem absprechen.


Trailbuddies


An Orten wie diesem

(oder: mit Menschen wie diesen)

wünscht man sich Unendlichkeit


Am zweiten Tag weckt uns ein übermotivierter Kuckuck, der sich in Amsel-Melodien versucht. Wir teilen das Glück, an einem Ort aufzuwachen, an dem man nur Vögel und den Wind hört. Wo die Luft sauber ist und man aus dem Bach nebenan trinken kann. Geteilte Freude ist mindestens doppelte Freude!

Die ersten acht Kilometer gehen wir weglos übers Fjell, um ins nächste Tal zu gelangen. Linn und ich sind ein gutes Navigationsteam und kommen zügig voran. Paras unterstützt uns mit dem richtigen Riecher für kleine Tierpfade. Oft ist es sogar einfacher zu gehen als auf so manchem überwucherten oder sumpfigen, markierten Pfad.


Pause am See, die Ruhe vor dem Regen


Die Wolken, die sich schon vormittags immer höher auftürmen, holen uns dann im Tal ein. Zum ersten Mal werde ich auf der Tour richtig nass. Das muss gefeiert werden! Wir finden einen uralten Holzschuppen, in dem wir Pause machen können, und warten dort, bis der stärkste Regen vorbei ist.

Die letzten Kilometer hinauf zur Kjølihytta werden ein unerwarteter Traum. Es hört auf zu regnen. Ich laufe ein Stück vor Linn. Die Aussicht wird mit jedem Schritt fantastischer. Und plötzlich stehe ich vor den ersten Rentieren der Tour! Als wäre das noch nicht genug, sehe ich endlich auch ein Moorschneehuhn aus der Nähe (nicht nur schimpfend aus dem Gebüsch flatternd).

Die Kjølihytta liegt unglaublich schön vor einem weiten Tal, mit Bergriesen in der Ferne, über denen ein Sturm tobt. Der See vor der Hütte ist ein Traum zum Baden.

Worte und Bilder tun sich schwer, zu beschreiben, wie es sich anfühlt, nach dem Schwimmen im Wind auf einem Stein zu sitzen, die Wellen zu hören und in der Ferne eine Rentierherde auf einem Schneefeld zu sehen. Ich will genau jetzt genau hier sein. Alles macht Sinn. Ein heiliger Moment.


Dann kommt Linn, mit einem sehr müden Paras. Wir machen es uns mit einem Feuer drinnen gemütlich und trocknen unsere Kleidung. Vor dem Fenster grasen erst Rentiere, dann können wir gelassen zuschauen, wie der Nebel vom Berghang auf die Hütte zukriecht. Linn wird hier einen Pausetag einlegen, weil sie auf ein Paket in ein paar Tagen warten muss. Um unseren letzten gemeinsamen Abend zu feiern, verdrücken wir das Orangendessert von Tjark und Daniel, das seit zwei Wochen in meinem Rucksack chillt und auf einen würdigen Moment wartet. Es wird einer der schönsten Abende bisher. Und das liegt sicher auch daran, dass ich gerade keine Angst mehr habe, morgen allein weiterzugehen.

Entsprechend emotional wird der Abschied am nächsten Tag. Wir sprechen aus, wie schön es war. Das Wesentliche bleibt unausgesprochen. Aber wir verstehen einander trotzdem.

Abschiedsschmerz, Dankbarkeit, Unsicherheit, die unbändige Freude über so eine schöne Erinnerung - ich glaube, dass das Schwierige an diesen Situationen ist, dass so viele scheinbar gegenteilige Gefühle auf einmal da sind. Unser Kopf versteht nur das Eindeutige, Eindimensionale. Aber unser Herz kann so viel mehr umarmen. Es versteht auch den Schmerz und die gleichzeitige Schönheit von Einsamkeit. Wir können so viel intelligenter sein, wenn wir über unser Denken hinausgehen.


Die Kjølihytta, ein Ort nicht von dieser Welt


Rentiere direkt vor der Hütte


Mein geliebtes Moorschneehuhn ("rype" - ich lerne die gesamte Flora und Fauna auf Norwegisch von Linn, deren Freund Biologie studiert!)


Ein Hoch auf die Grenzenlosigkeit!


Die nächsten Tage soll das Wetter umschlagen, es ist viel Regen angesagt. Nach anderthalb Monaten holt mich dann doch das norwegische Wetter ein. Ich plane meine Route um, um an den schlimmsten Regentagen kurze Etappen zu haben. Dafür bietet es sich an, einen Abstecher nach Schweden zu machen, um an den STF-Hütten Sylarna und Blåhamaren vorbei nach Storlien zu laufen. Was bedeuten denn schon Grenzen, vor allem in den Bergen?


Als ich morgens an der Nedalshytta vorbeikomme, packt dort gerade ein Mädel in meinem Alter ihr Zelt zusammen. Natürlich nutze ich die Chance, mit jemandem zu reden. Und so lerne ich Wiebke kennen, die einen Teil ihres Medizin-PJs in Uppsala gemacht hat und nun ein paar Tage in den Bergen verbringt. Die beste Nachricht: Wir haben heute denselben Weg! Welch ein Glück ich habe, schon wieder jemanden zu treffen!

Wir laufen durch die beeindruckenden Berge im Grenzland, die sehr schroff und steinig sind, wie ich es bisher hier noch nicht hatte. Ein wahrer Genuss!


Beeindruckende Landschaft kurz hinter der Grenze


Nachdem ich an den ersten Seen vorbeigelaufen bin, kann ich zu dieser perfekten Whirlpool-Gumpe einfach nicht Nein sagen! Damit feiere ich auch die 1000-km-Marke der Tour


Aller guten Mädels sind vier


Wir werden etwas nass, bevor wir an der Fjällstasjon Sylarna eine Pause machen. Eine so moderne Hütte habe ich noch nie gesehen! Sie ist riesig, hell, geräumig, modern ausgestattet und hat sogar WLAN. Für uns geht es aber noch ein paar Kilometer weiter bis zu einer winzigen Schutzhütte, in der wir übernachten wollen. Wir machen es uns schon gemütlich darin, als zwei junge Mädels hereinschauen und fragen, ob wir hier bleiben ... Ja... aber wir passen auch geradeso zu viert hinein! Und so erweitert sich unser Girls-Pulk um Marta und Annie aus Schweden, die eine kleine Bergtour geplant haben. Es wird eng und sehr gemütlich in der Hütte. So viel gelacht wie an diesem Abend habe ich lange nicht mehr!


Die Gamla Sylan mit meinen drei Wegbegleiterinnen


Reeeegen!


Für den folgenden Tag ist starker Regen angesagt. Wir schmeißen uns gleich morgens in unsere Regenkleidung und sind froh, dass wir heute nur 16 km bis zur STF-Hütte Blåhamaren haben.


Det finnes ikke dårlig vær, det finnes kun dårlig klær (Es gibt kein schlechtes Wetter, es gibt nur schlechte Kleidung - den Spruch gibt es auf Norwegisch und Schwedisch) - die Viererbande kurz vorm Start


Nach ein paar Kilometern verabschieden wir uns von Wiebke, die heute ins Tal absteigt. Danke für die schöne Zeit und die Wegbegleitung, ich habe sie sehr genossen! Ach: Schöne Schuhe übrigens ;)

Es ist eine ungewöhnliche, aber sehr angenehme Situation, jemanden zu verabschieden, aber selbst mit anderen weiterzulaufen. Denn Marta und Annie wollen auch nach Blåhamaren. Das ist besonders heute super, denn der Regen wird immer stärker. Wir trotten hintereinander her und hoffen einfach, dass die Hütte bald kommt. Dazu kommt bei mir langsam der berüchtigte "hikers-hunger", der quasi unstillbar ist. Besonders, wenn man in Wind und Regen den Rucksack nicht absetzen will. Ein paar Nüsse und ein Riegel müssen bis zur Hütte reichen.

Bald sind wir bis auf die Haut durchnässt. Laufen im Regen ist anders. Ich habe mein Cap tief ins Gesicht gezogen, um die Brille trocken zu halten. Es ist besser, nicht weit nach vorne zu schauen, sondern nur den nächsten Schritt zu machen. Einer nach dem anderen. Tunnelblick und Tunnelmodus also. So fühlt es sich gar nicht so schlecht an, vor mich hinzulaufen. Solange ich nicht über die verbleibende Strecke nachdenke, bringt mich der Regen in einen sehr meditativen Zustand. Außerdem hilft es sehr, den Schuhen vor mir zu folgen, in dem Wetter nicht allein zu sein und in den kleinen Mikropausen (nur nicht kalt werden!) den ein oder anderen Scherz zu teilen. So halten wir die gute Stimmung bis zur Hütte aufrecht.


Die Freude ist groß, als die grauen Umrisse der Hütte vor uns auftauchen. Dort werden wir mit einem kostenlosen heißen Tee empfangen. Wow! Dafür sind die Übernachtungspreise hier wirklich saftig. Aber heute ist das nötig. Wir okkupieren den Trockenraum und machen es uns den Nachmittag lang gemütlich. Wieder genieße ich die Gesellschaft. Wer weiß, wann ich wieder welche habe!


Tschüss, Zivilisation!


Der Weg nach Storlien wird überraschenderweise von oben ziemlich trocken. Dafür gibt sich der Weg alle Mühe, das von unten auszugleichen.


Herzlichen Dank!


In Storlien gibt es wenig außer eine Art Einkaufszentrum mit einer Süßigkeitenabteilung, die größer ist als mancher Supermarkt. Ich bin so überfordert, dass ich am Schluss ohne Süßes wieder rausgehe. Die Überforderung führt aber leider auch dazu, dass ich viel mehr als nötig für fünf Tage einkaufe. Das muss ich jetzt alles schleppen. Storlien ist der letzte Ort mit einem großen Supermarkt und einem Outdoorgeschäft. Bis Alta in etwa 1400 km werde ich auf meiner geplanten Route nun nur noch durch Käffer und an meinen Paketen vorbeilaufen. Das ist auch das nächste Ziel: Im Gaundalen fjellgård wartet mein erstes Paket auf mich. Bis dahin bin ich gespannt, wie es mir mit dem Regenwetter gehen wird. Da es in Storlien keine Übernachtungsmöglichkeiten gibt, werde ich heute noch ein paar Kilometer den Berg hochlaufen und mir dann einen Zeltplatz suchen. Irgendwie bin ich doch ganz froh, diesen seltsamen Grenzort zu verlassen, an den Menschen mit großen Autos kommen, um kiloweise Getränkedosen, Süßigkeiten und Großpackungen von allem anderen einzuladen. Es fühlt sich an wie ein Abschied von einer Zivilisation, die ich nicht so sehr vermissen werde. Besser also, als von einem netten Ort in die Pampa aufzubrechen!



Allein oder gemeinsam?


In manchen Momenten fühlt es sich ganz klar besser an, nicht allein zu sein. In anderen Momenten, vor allem in den schönen, frage ich mich manchmal, ob es besser wäre, sie allein oder mit anderen zu erleben. Ob ich sie mehr genießen würde, wenn ich wüsste, dass ich die Erinnerungen teilen kann. Ich weiß es nicht. Ich glaube, dass diese beiden Situationen eigentlich nicht vergleichbar sind. Denn in beiden spielen jeweils ganz andere Dinge eine Rolle. Ich glaube, das Wichtigste ist in beiden Situationen, nicht zu glauben, das jeweils andere hätte mehr Wert.

Und je leichter es mir fällt, das Alleinsein zu genießen, desto mehr habe ich auch von den gemeinsamen Zeiten. Viele erzählen mir, dass sie nicht allein unterwegs sein wollten, weil sie dann die Erinnerungen nicht teilen können. Für sie macht es keinen Sinn, alleine Erfahrungen zu sammeln, seien es schöne oder schwierige. Ich kenne diesen Gedanken auch. Aber ich hatte immer das Gefühl, trotzdem etwas zu gewinnen. Und jetzt sehe ich, dass es wieder das Gleichgewicht ist, das den Reichtum herstellt. Das Alleinsein und das Teilen. Nur wenn ich die gegenteilige Situation kenne, kann ich das jeweils andere genießen.


Trailsound 8: Rise Against "historia calamitatum" (https://youtu.be/NpJ8f17iPT8); auch, wenn die Lyrics sicherlich metaphorisch gemeint sind, passt die Stimmung wunderbar zum Wetter!


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