Start: Atnbrua (18.6.)
Ziel: Tynset (20.6.)
Distanz: 71 km (gesamt: 826 km)
Zeit: 3 Tage + 1 Pausetag (gesamt: 37)
Status: Steigerungslauf der Zeit
Weite Wildnis
Auf die ersten eineinhalb Tage hab' ich mich schon gefreut. Erst mal folgt wieder ein Waldtunnel. Als ich schon fast über der Baumgrenze bin, kommt mir ein Wanderer mit einem großen Rucksack entgegen. Inzwischen ist klar: Wenn man in dieser einsamen Gegend jemanden trifft, wird geredet. Und so lerne ich Bjørn und seine liebe Husky-Hündin kennen. Bjørn geht ebenfalls Norge på langs, springt aber etwas hin und her, um das Schneeproblem zu umgehen. Der erste NPL-Norweger, den ich kennenlerne! Der Chirurg lobt mich für meine Entscheidung, mein Knie mit kurzen Etappen zu schonen, und meint, dass sich nach etwa sechs Wochen Bänder und Sehnen an die Belastung angepasst haben. Das wäre ja eine schöne Nachricht, denn ich habe schon Lust, wieder Gas zu geben. Wir tauschen ein paar Infos über die hinter uns liegenden Strecken aus. Er empfiehlt mir eine Abkürzung von Alvdal nach Tynset, die Gegend südlich des Tron sei nicht so spannend und sehr "mückig". Dafür schwärmt er von der Gegend zwischen Tynset und Røros (meine übernächste Etappe) und von überhaupt allem, was danach kommt, und macht mir richtig Lust auf die vor mir liegende Strecke. Wieder mal wird es über eine halbe Stunde Gespräch und ich freue mich, wieder Norwegisch geredet zu haben. Mir fällt das altbekannte Gefühl auf, dass es in einer Fremdsprache manchmal schade ist, dass ich nicht alles sicher verstehe und mich oft nicht ganz so präzise ausdrücken kann, wie ich gerne würde. Aber es freut mich total, wenn Leute die Geduld haben, mir zuzuhören und selbst deutlich zu sprechen!
Ein feines Mittagessen mit Gemüse – geht nur bei kurzen Etappen!
Als ich dann endlich aus dem Wald raus bin, freue ich mich noch mehr. Wieder laufe ich über eine Hochebene, überall am Horizont ragen Berge auf, steile Gletscherformen aus Geröll, die aus den Ebenen aufwachsen, in der Mitte steil werden und oben rund und flach sind. Der sanfte Wind vertreibt die Fliegen und ich kann bei ungestörten Pausen die weite Sicht und eine leckere Brotzeit mit Gemüse genießen, da ich mir neben Verpflegung für drei Tage auch etwas schwerere Dinge eingekauft habe.
Weite Landschaft
Eigentlich ist diese Landschaft gewaltig. Wo ich hinschaue nur Weite. Breite Täler mit mäandernden Flüssen, tümpelartigen Seen und Sumpf; lang gestreckte Hügelrücken mit niedrigen Sträuchern, blühender Heide, Blaubeeren und vielen flechtenüberwachsenen Findlingen. Gurgelnde Bachgräben, teils noch in Schnee eingebettet, mit Wasser, das mir ein paar der schönsten Momente des Tages schenkt. Hier fällt mir auf, wie die Einfachheit meines aktuellen Alltags mich solche Momente wirklich wertschätzen lässt: Ein Schluck frisch geschmolzene Bergwasser schmeckt besser als jedes Eis im Tal.
Es ist eine große, leere Weite, durch die ich laufe. Man möchte meinen, dass hier nie Menschen unterwegs sind, wenn es da nicht die paar schmalen Wanderwege gäbe. Wie so oft fühle ich mich in dieser Weite überhaupt nicht verloren, sondern habe das Gefühl, darin zu verschwinden und nur noch die stille Bewunderin dieser Wildnis zu sein.
Die Korsberghytta erreiche ich nach einer herrlichen Runde Schwimmen (a swim a day keeps the smell leider nicht ganz away ...) gerade noch rechtzeitig, bevor der erste Regenschauer über den Bergrücken niedergeht. Ich höre den Wind um die Hütte pfeifen und freue mich über den gemütlichen Abend im Trockenen, ganz ohne Empfang, dafür mit einem warmen Essen und grandioser Aussicht auf den See und die dunklen Wolken.
Aussicht aus dem Fenster der Korsberghytta samt Badesee (im Hintergrund)
Eine spannende Nacht
Als ich schon im warmen Bett liege und mich gerade so von den Regengeräuschen einschlummern lasse, rüttelt es plötzlich an der Tür. Es ist schon halb zwölf und ich muss mich erst mal orientieren, was das für ein Geräusch sein kann. Etwas erschrocken gehe ich zum Eingang und öffne den Türhaken, den ich in die Öse gesteckt hatte, weil die Tür bei Wind aufgeschwungen ist. Draußen stehen zwei sehr nasse, aber sonst beeindruckend muntere Frauen, die in die Hütte wollen. Es stellt sich heraus, sie wollten sich zum Wandern treffen, aber eine nahm einen Zug, der sich kräftig verspätet hat (irgendwie kommt mir das bekannt vor ...!?). Und so konnten sie erst um neun abends loslaufen. Kein Problem hier – ist ja immer hell. Wir reden kurz (yes, schon wieder nur auf Norwegisch!), dann verkrieche ich mich wieder im Bett. Keine Stunde später werden wir von einem grässlichen Piepen geweckt. Alle kommen wir etwas bedröppelt in die Küche, wo der Gasmelder ein Geräusch von sich gibt, das definitiv seinen Zweck erfüllt. Ratlos stehen wir vor der Gaskartusche für den Herd, die zugedreht ist, nicht riecht und auch mit dem Streichholztest die Hütte nicht in Flammen setzt. Wir finden kein Problem und erklären schließlich das Gerät für defekt. Zur Sicherheit das Fenster auf, dann wirklich endgültig schlafen.
Ein ganz normaler Tag
Der nächste Morgen ist noch regnerisch. Ich muss nur ins Tal heute, also lasse ich mir Zeit, gönne mir den Luxus eines warmen Porridges in der Hütte (normalerweise laufe ich immer erst los und gieße mein Müsli mit kaltem Wasser auf) und verabschiede mich von den zwei Frauen. Als ich losgehe, hat der Regen schon aufgehört, und ich freue mich über die zapfigen Temperaturen samt Wind. Ganz mein Wetter halt! Der Weg kann sich mal wieder nicht entscheiden, ob er lieber Weg oder Bach sein will, aber heute freue ich mich noch über die letzten Kilometer, bevor die seeehr lange Forststraße nach Alvdal beginnt. Gut, dass es Podcasts gibt ... Dort plane ich die Route nach dem Tipp des Norwegers um und laufe noch ein paar Kilometer eine kleine Nebenstraße entlang. Das Highlight hier: Mir kommt ein sanft surrender Traktor entgegen. Noch nie habe ich einen E-Traktor gesehen!
Zeltplatzsuche an Landstraßen ist immer schwierig. Zwischen Privatgrundstücken, steilem Wald und Weideland gibt es oft nur Notplätze. Ich schraube meine Ansprüche vorsichtshalber schon vorher runter, finde dann aber eine akzeptable Stelle im Wald an einem winzigen Wanderweg. Kaum steht das Zelt, fängt es auch schon an zu nieseln. Ich habe schon wahnsinnig Glück mit dem Wetter: Es regnet immer, sobald ich einen Unterschlupf habe! Also noch ein Abend im Zelt, bei dem ich erst diesem wunderbaren Geräusch von leichtem Regen auf die Zeltplane zuhören kann, und mich dann ein Vogelkonzert in den Schlaf singt. Es klingt so vertraut, einer Amsel zuzuhören. Dafür, dass ich mir das Ende dieses Tages eher nach einem Kampf um einen Zeltplatz vorgestellt habe, ist das doch ein ganz akzeptables Ende!
Mach, was die Locals sagen!
Am nächsten Morgen weckt mich um Viertel nach fünf das ferne Geräusch von Baggern und krachendem Holz. Es ist ziemlich weit weg, aber die Vorstellung, mein Zelt hektisch abbauen zu müssen, während davor ein großer Bagger ungeduldig brummt, lässt mich dann doch zusammenpacken. Um Punkt sechs Uhr stehe ich bei Nebel auf der Straße. So früh bin ich noch nie losgegangen.
Auf der Straße merke ich, da fehlt noch was ... Ach, genau ... Ich binde meinen linken Schuh (47 Mücken gefällt das), laufe etwas weiter und binde dann meinen rechten Schuh (53 Mücken gefällt das) und lasse die lange Hose erst mal an (shitstorm der Mücken-Community).
Die Geräuschkulisse ist ungewöhnlich heimisch, Amseln, Meißen, Mönchsgrasmücke und Rotkehlchen singen um die Wette. Vielleicht liegt das an den Bäumen, die hier im Tal unserer Vegetation ähnlicher sind. Nachdem die Landstraße hinter mir liegt, bekomme ich noch mal ein richtig schönes und vor allem angenehm gehbares Stück Weg angeboten. Kiefernwäldchen mit den Flechten (Pflanzen? Moosen?), die hier überall wachsen und seit dem Regen nicht mehr unter jedem Schritt zerbröseln, sondern weich wie Schwämme geworden sind. Der Tipp des Norwegers war also richtig!
Ein einfacher, schöner Weg - zum Genießen!
Trail-Magic und ein ferner Trail-Angel
In Tynset komme ich wegen des frühen Starts trotz der 21 km schon vor 13 Uhr am Campingplatz an. Beim Reinlaufen werde ich kurz doch emotional: Auf diesen Ort bin ich lange zugelaufen, es fühlt sich wie ein Meilenstein an, hier anzukommen. Nein, es ist ein Meilenstein. Ich bin wieder auf meiner alten Route! Ich bin mittendrin, irgendwie ohne es so richtig realisiert zu haben! Manche Erkenntnisse kommen schon ziemlich zeitverzögert. Auch von anderen Reisen kenne ich Situationen, auf die ich Jahre später erst wieder stoße und erst dann merke, wie sich mich verändert haben. Insofern ist mein Hirn ja quasi schnell, schon nach gut 800 km zu merken, dass es gerade mitten in einem Projekt steckt!
Das Allerschönste ist, dass hier schon zwei Pakete auf mich warten: Eines mit meinem neuen Zelt und eines mit neuen Schuhen von zu Hause. Und hier wartet die große Überraschung auf mich: Neben Schoki, Sonnencreme und Magnesium finde ich die Schuhe reichlich gefüllt mit allen wichtigen Kleinigkeiten, die man so auf dem Weg braucht, unter anderem einem neuen Paar Socken! Ich wundere mich über die unbekannte Handschrift, bis ich den Brief beiliegen sehe. Hier also die Story:
Meine Eltern haben die Schuhe auf Kleinanzeigen gefunden und bei der Verkäuferin abgeholt. Es stellt sich heraus, dass diese selbst letztes Jahr den PCT (Pacific Crest Trail in den USA) gelaufen ist und das Gleiche studiert hat wie ich! Sie weiß also ganz genau, worüber ich mich in der Situation so freue! Welch ein schöner Zufall, welch eine Freude und was für eine Ehre, diese Schuhe die nächsten 1000 km tragen zu dürfen! Danke, liebe Sonja, für die Schuhe, die vielen Kleinigkeiten und ganz besonders die lieben Zettel und den Brief!
Meine alten Schuhe und die neuen Schuhe meines Trail-Angels Sonja (zur Erklärung: auf den Weitwanderwegen in den USA gibt es eine ausgeprägte Trail-Kultur mit teils eigenem Vokabular. Trail-Angels sind die Leute, die sich um die Hiker*innen kümmern, mal ein kühles Getränk an den Weg stellen, Hitchhikes oder Übernachtungen organisieren; Trail-Magic sind Momente, in denen unerwartet etwas Gutes passiert, eben z. B. ein solches gekühltes Getränk zu finden)
Der gesamte Glücksmoment
Noch am Abend mache ich mich an die Aufgabe, die Zeltnähte mit Silikon gegen Regen abzudichten (= seamsealing). Es macht mir viel Freude, mal wieder eine feine Tätigkeit mit den Händen auszuführen und die zwei Stunden vergehen wie im Flug, samt Bewunderung meiner feinmotorischen Fähigkeiten durch unzähligen Mücken ...
Mein neues Zelt – Bericht folgt
Am nächsten Tag, meinem offiziellen Pausetag (der diesmal auch geplant war), bin ich froh, diese Aufgabe schon hinter mir zu haben, denn er wird ziemlich vollgepackt. Ich telefoniere mit meiner Schwester, meinen Eltern, meiner Oma und einer Freundin, kaufe Essen ein, schicke das Paket mit dem alten Zelt nach Hause und plane meine nächste Etappe. Abends ist gar keine Zeit mehr übrig, um zu entspannen und nichts zu tun.
Erkenntnisse einer Weitwanderin nach einem guten Viertel des Weges
Die letzten Tage sind schnell vergangen und ich merke, wie ich mit den Erkenntnissen nicht mehr hinterherkomme. Tue ich sowieso nie. Aber manchmal fällt es mir eben auf. Von früheren Reisen kenne ich das sehr gut. Da lebt man so vor sich hin, es passiert gefühlt jeden Tag nicht viel, man wartet auf irgendetwas Unbestimmtes. Und plötzlich ist man mitten drin und es geht alles ganz schnell. Zum ersten Mal kommt zu dem Gefühl, dass es noch unendlich weit ist und ewig dauert, das Gefühl, dass die Zeit wirklich schnell vergeht und die Tour im Nu vorbei sein wird. Diese Gedanken werden sich abwechseln. Manchmal wird mir die Zeit noch ewig vorkommen, die Strecke unbewältigbar. Und dann wird es Momente geben, in denen mir die Tour vorkommen wird wie ein kurzer Sommertrip in den Norden, ein Sandkorn in der Sanduhr meines Lebens. Ich werde versuchen, jeden Moment auszukosten. Manchmal wird es mir gelingen, manchmal werde ich scheitern. Ich werde die langen, häufigen Passagen von Eintönigkeit und Langeweile, von Vor-mich-Hingehen vergessen und Geschichten erzählen von den Momenten dazwischen, in denen etwas vermeintlich Spannenderes passiert ist. Das, was die Erinnerung sich aussucht zu behalten. Eine verzerrte Geschichte, die nicht nach Sekunden, Minuten oder Tagen tickt, sondern nach meiner Wahrnehmung. Noch so ein Paradoxon. Wir erleben unsere Vergangenheit anders, als wir sie in der damaligen Gegenwart erlebt haben. Vielleicht weil wir unmerklich zu anderen Menschen geworden sind? Weil sich die Perspektive und der Blick auf unsere eigenen Erfahrungen geändert haben? Weil es unser Gehirn gut mit uns meint und großzügig aussortiert. Können wir beeinflussen, was uns bleibt? Können wir das im Moment des Erlebens beeinflussen? Ich weiß es nicht.
Emotional Stripping
Manchmal frage ich mich selbst, warum ich hier in einem Blog, den jede*r lesen kann, mein Seelenleben so offenlege, mich emotional bis auf die Haut ausziehe. Ich könnte auch einfach schreiben, was passiert ist. Ich habe viel darüber nachgedacht und glaube, dass das, was ich sehe und erlebe, nur meine halbe Wahrheit ist. Wie ein Foto auf Google Maps, mit einem Standort und einem 360°-Rundumblick. Dass es aber eine Person geben muss, die dieses Foto aufnimmt, und dass diese Person vielleicht etwas ganz anderes darin sieht als der*die Betrachter*in, ist die wesentliche Geschichte. Es ist mir wichtig, die ganze Geschichte zu erzählen. Dazu gehören für mich meine inneren Erlebnisse. Sie erklären, warum Sonnenschein im außen nicht immer Sonnenschein in der Seele bedeutet und dass ein tosender Sturm tiefen inneren Frieden auslösen kann. Zur ganzen Geschichte gehört meine persönliche Sicht auf die Welt und die Erfahrungen, die Brille, die ich aufhabe. Letztendlich ist es die Ebene, auf der ich mit anderen Menschen in Kontakt treten kann. Nichts berührt mich mehr, als zu hören, wenn sich jemand in meinen Worten wiederfindet. Wenn jemand meine Worte als Ermunterung sieht, seine*ihre eigene Geschichte zu erzählen. Nackt zu sein schafft Verletzlichkeit und ist eine Notwendigkeit für Verbundenheit. Manchmal muss man dafür erst einsam sein. Manchmal findet man sie dort, wo man am weitesten von anderen Menschen entfernt ist. Und manchmal findet man sie erst später, im Austausch mit anderen über Situationen, von denen man gedacht hatte, dass sie nie jemand verstehen wird. Aber wir sind alle Menschen. Wir müssen uns nur trauen zuzuhören. Und zu erzählen.
Trailsound 6: Passenger "flight of the crow" (https://youtu.be/PjGPzlZDLlY) – irgendwie komme ich beim Reisen immer wieder auf meinen ersten Lieblings-Singer-Songwriter zurück; vielleicht liegt es am Künstlernamen ...
Siehst Kattl, wie schnell ein paar positive Erlebnisse die Stimmung wieder aufhellen können! Wir wünschen Dir im Verlauf der Reise noch viel mehr davon. Und natürlich sind wir täglich mit gedrückten Daumen in Gedanken bei Dir.
Du kriegst das prima hin, Respekt!
Bussel von Tante und Onkel...