Start: Elverum (10.6.)
Ziel: Atnbrua, Rondane (17.6.)
Distanz: 182 km (gesamt: 755 km)
Zeit: 8 Tage plus ein Pausetag (gesamt: 33)
Status: alt jeg ikke lærte på skolen ...
Gespräche, Wein und Pfannkuchen
Woran erinnert mich das bloß? Auch in Elverum lege ich spontan einen Pausetag ein, da mein Knie in den letzten Tagen etwas gezwickt hat. Ganz leicht fällt mir das nicht. Ich bin gut eingelaufen und habe Feuer gefangen. Aber nichts würde mich mehr ärgern, als die Tour abbrechen zu müssen, weil ich mir aus Ungeduld ein Gelenk kaputt mache.
Dafür werde ich reichlich mit tollen Menschen beschenkt. Am ersten Abend treffe ich Tjark und Daniel (man erkennt einander daran, dass man Salz in kleine Plastikdosen umfüllt – das macht niemand mit einer voll ausgestatteten Küche im luxuriösen Wohnmobil!). Sie feiern hier ihren Abschluss des dreiwöchigen Finnskogleden. Respekt! Die beiden lassen mich zurück wie die Made im Speck: unverbrauchte Trekkingnahrung, Ziplock-Beutel, ein Buch (ja wirklich, ein Buch!), Eier, Mehl, Öl und Zucker – wenn das keine Pfannkuchenparty wird! Vor allem aber schenken sie mir einen schönen Abend mit guten Gesprächen. An Pausetagen coole Leute zum Reden zu finden, das ist immer ein Riesengeschenk!
Der Pausetag beginnt langsam. Yoga, eine Runde zum Fluss, den Rest Essen für acht Tage Tour und eine Bandage fürs Knie besorgen. Besonders genial ist, dass der Campingplatz kostenlos Fahrräder verleiht, was ich sofort ausnutze. Sonst hätte ich im Ort schon wieder 10 km gesammelt ... Plötzlich das Gefühl dahinzufliegen! Huuuiii! Dann noch etwas telefonieren, schon ist Abend. Als ich mir gerade meine Pfannkuchen backe, kommt eine Frau und lädt mich einfach so zu einem Wein ein! Es stellt sich heraus, sie sind ein Ehepaar aus Schwaben und vor dreißig Jahren aus Siebenbürgen ausgewandert. Sie sind sehr süß und ich bin wahnsinnig dankbar für das Beisammensein. Und weil das nicht genug ist, treffe ich beim Abspülen drei Austausch-Studis aus Uppsala, die hier einen kleinen Roadtrip machen. Es macht so Spaß, sich über diese Art von Reisen auszutauschen! Danke, ihr drei habt mir wirklich einen tollen Abend geschenkt!
Abends werde ich etwas wehmütig, weil ich merke, wie schön es doch ist, Leute um mich zu haben. Manchmal fühle ich mich auf diesen Reisen wie ein staubtrockener Schwamm, der jedes soziale Tröpfchen irgendwo speichert und sich trotzdem nie vollsaugt.
Die schiefe Ebene
Die nächsten Tage verbringe ich auf einer schiefen Ebene. Also, ganz wörtlich. Ich laufe einfach ganz sanft bergauf. Genauso sanft verändert sich die Landschaft. Die Bäume werden weniger, kleiner und verhutzelter, immer öfter sehe ich sogar die umliegenden Hügel. Die Sonne scheint unerbittlich. Mein Knie schlägt sich wacker, am ersten Tag laufe ich noch noch etwas unrund, um es nicht zu belasten. Aber es tut nicht weh und bald kann ich wieder normal laufen. Die schiefe Ebene wird immer freier und irgendwann stehe ich doch tatsächlich auf einer baumfreien Hochebene. Wie freut sich da mein Bergsteigerinnen-Herz! Aussicht! Wunderbar! Hier blüht die Heide noch und hinterlässt kleine gelbe Staubwölkchen, wenn ich sie im Vorbeigehen streife.
Am zweiten Tag treffe ich doch glatt einen echten Menschen! Es ist der erste Wanderer auf dem Rondanestien, seit ich die Trailrunner rund um Oslo hinter mir gelassen habe! Es ist ein älterer, bergbegeisterter Herr. Wir ratschen uns fast eine halbe Stunde lang fest, in der ich mit Freude merke, dass ich noch Norwegisch kann. Dass ich am dritten Tag glatt zwei Leute treffe, werte ich als Overtourism.
Was soll ich dann noch dazu sagen, dass ich an der Lyngbua eine ganze Schulklasse treffe? Die hat im Tal ihre Zelte aufgeschlagen und einen Tagesausflug hierher gemacht. Die zwei Lehrer machen riesige Augen, als ich von meinem Plan erzähle (fy faen! = "holy shit!"). Bisher haben die meisten Norweger*innen nicht so überschwänglich reagiert. Ich hatte das als die Selbstverständlichkeit gedeutet, mit der hier das friluftsliv ("Draußen-Leben") gelebt wird, und mich gefreut, dass solch eine Tour als etwas Normales angesehen wird. Ich dagegen mache große Augen, wie freudig die 14–15-Jährigen in dem See schwimmen gehen, angeln und durch die Gegend springen. Wenn ich mir vorstelle, meine Schulklasse hätte auf Zelt-Klassenfahrt gehen müssen ... – da wäre das Thema Schulstreik schon vor Greta Thunberg aufgekommen.
Die Bäume werden immer weniger ...
... und bald durch Wegweiser als Markierungshilfe ersetzt
Die mentale schiefe Ebene
Gleichzeitig hab' ich in diesen Tagen oft mit mir selbst zu kämpfen. Meine Stimmung ist wackelig, kleinere Herausforderungen bringen mich emotional durcheinander. Der erste Härtetest für die Stimmung ist die Aussicht auf einen entspannten Weg an einem großen Bach entlang am Ende einer Etappe – so sah es wenigstens auf der Karte aus ... Den ganzen Tag war ich schon etwas bedrückt drauf, aber auf den Weg am Bach hab' ich mich gefreut. Als ich dort ankomme, werde ich enttäuscht: Der Weg biegt vor dem Bach steil am Flussufer hinauf und führt hoch über dem Bach durch einen Wald, ein ständiges Auf und Ab, samt Holzfäller-Schneisen, umgefallenen Bäumen und sumpfigen Bächen.
Ab dem vierten Tag nehmen die Mücken ein ganz neues Ausmaß an. Ich freue mich auf die lang ersehnte Pause, die genau 30 Sekunden dauert, bis meine Beine mit unzähligen von den Biestern besetzt sind. Schnell Mückenmittel drauf, einen Riegel in den Mund und weiter. Leider wird die Plage von Tag zu Tag schlimmer. Die langen Pausen mit Siesta sind erst mal vorbei.
Solche Situationen kann ich normalerweise ganz gut abfedern. Wenn aber vorher schon eine schwierige Stimmung in mir herrscht, dann kommen schon mal Zweifel auf. Warum hab' ich mir so was ausgedacht? Die ganze Zeit allein, immer auf Spannung, alles allein durchstehen! Wenn es die Option gäbe, würde ich mich manchmal gern wie ein trotziges Kind auf einen Stein setzen und mich heimtragen lassen. Aber das ist keine Option.
Also heißt es: weitergehen, trotz allem. In diesen Momenten ist es schmerzhaft, aber hilfreich, mich daran zu erinnern, dass genau das ein wichtiger Grund war, hierherzukommen. Ich möchte mich genau dem stellen, ich will in Situationen kommen, in denen ich weder vor Entscheidungen noch vor mir selbst weglaufen kann. Ich möchte lernen zu vertrauen. Und das ist möglich, denn keine Stimmung ist für die Ewigkeit gemacht. Wie bei der Situation am Fluss: Als ich ihn am Schluss endlich überquere, gibt es dort tatsächlich eine Badestelle. Ich wasche mir Fichtennadeln, Schweiß und Sonnencreme ab und schrubbe mir vor allem die Stimmung vom Leib. Wasser hilft immer. Auch der Seele.
Ohrenschmaus oder Albtraum?
So oft wünsche ich mir Stille, in einer Stadt, in der an jeder einzelnen Ecke das Grundrauschen und wütende Brausen unserer grandios dahinsiechenden Mobilitätskultur zu hören ist. Hier hab' ich sie überall, unterlegt von den Geräuschen der Natur: Wind, der durch die Bäume rauscht und sie knarzen lässt, das plätschernde Wasser eines Bachs, der Kuckucksruf, der mich ständig begleitet (die anderen Vögel hier sind wohl sehr fleißig!), die Vögel, die ich aus dem Gebüsch aufschrecke und deren Flügelschläge ich im Wald verschwinden hören kann – ein Ohrenschmaus.
Wenn es mir gerade nicht so gut geht, kann genau diese "Ohrenschmaus-Stille" sehr bedrückend werden. Manchmal bilde ich mir ein, dass irgendwo Schritte zu hören sind, dass da jemand von fern spricht. Dann ist es doch wieder nur ein Vogel oder der Wind. Wenn ich mich einsam fühle, kann diese Stille fast unerträglich werden. Unsere Wahrnehmung ist so abhängig von unseren Gefühlen, Bedürfnissen und Seelenzuständen, das wird mir in diesen Momenten klar. Was gestern noch einen tiefen Frieden bedeutet hat, kann heute die Vertonung von Einsamkeit sein. Es ist eine sehr schwierige Aufgabe, die Umgebung ohne diesen Filter wahrzunehmen. Ist es uns überhaupt möglich?
Meine größte Angst
Ihr merkt, auf diesem Abschnitt hat mich mein Innenleben ganz schön beschäftigt. Ich bin mir oft selbst begegnet. Wenn ich laufe, bin ich mit mir. Wenn ich Pausen mache, bin ich mit mir. Morgens und abends bin ich mit mir. Wenn es mir dabei gut geht, ist das schön. Wenn nicht, habe ich keine Möglichkeit, mich abzulenken. Keine Nebenbeschäftigungen, kein Netflix, keine Unterhaltung, keine Mails zu checken. Ich muss mich mit dem beschäftigen, was da ist. Meine Gedanken tun leider nicht immer, was ich gerne hätte. Sie können einen schönen Tag in einen Spießrutenlauf verwandeln.
Meine größte Angst ist die Angst vor einer der ungefährlichsten Situationen überhaupt: Nichts zu tun zu haben. Denn dann können die Gedanken kommen. Warum ich denn hier alleine bin, während alle anderen gemeinsam irgendwas Schönes unternehmen. Warum ich hier im Zelt sitze und warte, dass es Abend wird, wenn ich doch in meinem Zimmer ein Bild malen könnte. Wie lange ich noch gehen muss, bis ich heim kann. Und so weiter. Deshalb habe ich Angst vor kurzen Etappen. 15 Kilometer? Dann habe ich noch elf Stunden Tageszeit, die ich mit irgendwas füllen muss! Es ist interessant zu beobachten, dass die Angst vor "zu viel Zeit" viel größer ist, als die Situation an sich schlimm ist. Neben all den Beschäftigungen, die ich ja trotzdem habe (Kochen, Kleidung waschen, mich waschen, Tagebuch- und Blog-Schreiben und jetzt sogar Lesen), kann ich doch eben auch gut rumsitzen und einfach schauen. Ich habe aber wenig Vertrauen in diese Fähigkeit. Es fällt mir schwer zu beschreiben, was da genau passiert, weil es so irrational ist. Umso wichtiger ist es, mich so oft wie möglich in genau diese Situation zu begeben. Nur so kann ich lernen, dass ich vor nichts Angst haben muss. Meine Medizin ist also nichts anderes als "Augen weit auf und durch". Und zu meiner Verwunderung finde ich immer Wege in den Frieden mit der jeweiligen Situation.
Ich werde das Spiel noch oft wiederholen müssen, bis ich wirklich daran glaube, dass alles vorbeigeht. Dass ich mit Einsamkeit und jeder anderen Stimmung umgehen kann. Ich habe lange Zeit damit verbracht, mir zu wünschen, dass ich anders wäre, so wie die vielen Menschen, die überhaupt nicht verstehen, was hier überhaupt das Problem ist. Aber so funktioniert das Spiel nicht. Ich bin ich. Und ich muss mit meinen Herausforderungen klarkommen. Gerade deshalb bin ich im Moment sehr froh, dass diese Tour noch so lange dauert. Ich habe überhaupt keinen Druck, das alles zu verstehen und zu lernen. Ich kann dieselben Fehler immer wieder machen ... und werde noch viele Chancen bekommen.
Fjellglede (Gipfigaudi, auch "Bergfreude")
Am Ende des dritten Tages stehe ich dann wirklich vor etwas, was man Berg nennen könnte (auch wenn es eher hügelig ist). Ich freue mich wahnsinnig über diese Landschaft, mit Steinen, sanft geschwungenen Bergrücken und Gipfeln, sodass ich gleich einen Umweg auf den ersten Gipfel einlege. Zum ersten Mal über 1000 Meter! Und dann darf ich auch noch in dieser Landschaft mein Zelt aufbauen! Wenn ich von einer solchen Schönheit umgeben bin, ohne eine Menschenseele, dafür aber mit Wind, Aussicht, Vögeln, dann fühle ich mich am wenigsten einsam. Dort bin ich irgendwie zu Hause. Auf eine ganz andere Art als an meinem Wohnort. Es ist, als würde mich die Landschaft für diesen Abend, die Nacht adoptieren. Als würde ich dazugehören.
Deshalb weiche ich am fünften Tag, auf dem Weg von der Lyngbua zur Vetåbua, vom Rondanestien ab, um ein paar Gipfel mitzunehmen. Verlassene Hügelrücken, die Wege verlieren sich im Nichts, ich laufe durch niedriges, staubtrockenes Gestrüpp. Und als ich fast oben bin, muss ich plötzlich stehen bleiben und fange fast an zu weinen. Diesmal sind es Freudentränen. Fast zum Greifen nahe stehen hinter den nächsten Hügeln stolz die weißen Berggipfel der Rondane. Steile, mächtige Spitzen, halb mit Schnee bedeckt. Erst hier wird mir bewusst, wie sehr ich mich genau darauf gefreut habe: Berge, echte Berge! Dafür bin ich doch hier, dafür hab' ich mir doch Norwegen ausgesucht! Nun musste ich ziemlich genau einen Monat lang laufen, um das zu sehen. Vielleicht erklärt das zum Teil, warum ich mir nach meiner Planänderung doch manchmal mit dem Weg schwer getan habe. Unter den aktuellen Bedingungen hab' ich natürlich Asphalt gegen Wald eingetauscht – super Deal. Aber in meinem Kopf war da immer noch der geplatzte Traum von all den Bergtagen, die mir der Schnee verboten hat. In meiner Vorstellung hab' ich die Berge gegen den Wald eingetauscht. Und das ist für ein Berg-Kind ein mittelmäßiger Tausch. Trotzdem bereue ich die Entscheidung keineswegs. Vielleicht war es nötig, dass es so lange gedauert hat, bis ich meinen Traum sehen konnte. Manchmal braucht man viel Geduld. Auch das wollte ich gerne auf dieser Tour lernen.
Gipfelglück.
Fjellglede 2.0
In den folgenden Tagen rückt die Rondane immer näher. Der Weg zur Vetåbua wird ein einziger Kampf gegen Mücken. Das kratzige Gestrüpp am Wegrand und Mücken bilden die perfekte Symbiose: Die Mücken stechen mich, das Gestrüpp kratzt für mich die Stiche. Super praktisch! Nur sagen meine zerkratzten, zerstochenen Beinen am Schluss doch, dass das noch nicht ganz die Lösung sein kann. Zum Glück gibt es das Teufelszeug namens Myggmelk, das ich klugerweise in Oslo gekauft habe.
Irgendwo auf dem Weg zur Jammerdalsbu verschwinden die Viecher dann plötzlich. Der Tag wird zu einem echten Highlight der Tour. Ich wandere über eine weite Hochebene, sehe (nun bin ich ganz sicher) Singschwäne und brauche für die letzten fünf Kilometer dann fast drei Stunden. Warum? Erst mal mache ich Pause auf einem Gipfel. Ich bin mir nicht sicher, ob man das überhaupt Gipfel nennen darf, denn es ist eher ein sehr flacher Gras- und Steinhügel, dessen höchsten Punkt man wohl am besten bestimmt, indem man irgendwo zwei Steine aufeinanderstapelt. Allerdings bietet er Wind (= keine Mücken!) und eine 360°-Panorama-Aussicht auf ganz Norwegen ..., na ja fast ... (Das Nordkap war noch nicht in Sicht!) Eine gefühlte Ewigkeit sauge ich diese Bilder ein, während hier und da Regenschwaden über den Gipfeln runtergehen. Welch eine Stimmung! Als mir dann die Fliegen zu aufdringlich werden (hat man denn nirgendwo seine Ruhe?!), geht es weiter.
Doch schon kurze Zeit später werde ich wieder unterbrochen: Beim Queren einer halb fertigen Brücke über einen Bach teste ich meinen Gleichgewichtssinn. Gar nicht so schwer, über das handbreite Stahlgitter zu balancieren. Danach erst kommt der Gedanke, dass es eigentlich sehr dumm war, so was zu machen. Die Sache hätte im Falle eines Fehltritts doch ziemlich übel ausgehen können. Ich verdränge diese Erkenntnis, indem ich einem Blick ins Wasser werfe: Der perfekte Ort für ein Bad. Und siehe da, es gibt hier quasi keine Mücken!!! Also ausziehen, sich reinwerfen, geniiieeßen! Als auch noch die Sonne rauskommt, wird die kurze Pause zu einer ganzen Stunde an diesem herrlichen Ort mit den flachen Steinplatten. Als hätte irgendjemand gewusst, wie sehr ich eine lange Pause am Wasser in den letzten Tagen vermisst habe!
Besagte Brücke mit Badebach
Die Aussicht vor der Jammerdalsbu belohnt mich für einen Monat auf Tour
Ein verkorkster Tag ..., oder ...?
Der vorletzte Tag wird, na ja, erst mal verkorkst. Es waren Wolken angesagt, aber schon morgens brennt die Sonne vom Himmel (warum wollte ich noch mal nach Norwegen? Ach genau, weil's da kühler ist). Die Landschaft ist schön, aber komplett offen, eine einzige Hochebene ohne ein Fleckchen Schatten. Ich trage mit meinem Wasserkonsum und dem Schwitzen ordentlich zur Wiederherstellung des üblichen Wasserkreislaufs in Norwegen bei und freue mich auf die erste Pause. Die dann gar nicht gemütlich wird, weil ich sofort von ca. 20% Mücken und 80% Fliegen liebkost werde. Erstere sorgen für den Juckfaktor, letztere dafür, dass ich zum ersten Mal das Mücken-Kopfnetz überstreife, denn sie mögen meine Augen und Haare offensichtlich am liebsten. Dann am besten schnell weiter. Regelmäßig jede halbe Stunde kommt ein Sumpf, bei dem es mir manchmal fast die Schuhe vom Fuß schlonzt. Sobald diese dann wieder etwas abgetrocknet sind, stehe ich vor dem nächsten Sumpfloch. Die Temperaturen steigen und sind letztendlich mindestens zehn Grad zu warm für meinen Geschmack. Mir geht die Sonnencreme aus. Hoffentlich reicht meine schon reichlich gesammelte Bräune aus. Wolken sind über den anderen Hügeln reichlich in Sicht, nur über mir herrscht makelloses Blau. Ich hab' Hunger und fluche und keife vor mich hin – hört ja eh keiner.
Schließlich bastle ich mir eine halbwegs schattige Notkonstruktion aus meiner Zeltunterlage, um wenigstens kurz zu rasten. Vor mir liegt der Muen, quasi ein Vorgipfel der Rondane. Dahinter braust und tobt ein Gewitter. Wunderbar, genau meine Richtung. Innerhalb einer halben Stunde laufe ich vom Südseefeeling in ein norwegischen Gewitter. Ziel ist nun erst mal das Klohäuschen an der nächsten Straße, das einen kleinen Unterstand hat. Wind kommt auf, die ersten dicken Tropfen erreichen mich. Was Nasses von oben – da muss ich kurz überlegen ..., ach so, ja: Regen! Hatte ich ganz vergessen! Ironischerweise fühle ich mich wie eine Blume in der Wüste, jeder Tropfen, den ich abbekomme, macht mich gerade extrem glücklich. Endlich richtig was los hier! Nur noch halb trocken erreiche ich den Unterstand und schaue die nächste Stunde selig dem Regen und Hagel zu, den kleinen Sturzbächen, die über den Parkplatz in den See fließen, und den dunklen Bergen, die das alles gar nicht interessiert. Als es nur noch tröpfelt, packe ich meine Sachen und gehe noch ein Stück, um mein Zelt nicht direkt an der Straße aufzustellen. Bald finde ich einen Platz, stelle bei leichtem Regen das Zelt auf und verkrümle mich darin. Dort mache ich es mir gemütlich und komme für den Abend auch nicht mehr raus. Eigentlich doch ein ganz cooles Ende, oder?
Der Muen vor dem Regen (man bedenke, dass bis vor zehn Minuten noch Sonnenschein mein Hauptproblem war)
Der Muen von der anderen Seite nach dem Regen
Der Weg nach Atnbrua wird erst wunderschön, ich laufe direkt unter den hohen Gipfeln der Rondane vorbei, dann durch ein Wäldchen. Die letzten Kilometer Straße sind unspektakulär, ebenso Atnbrua selbst, mit einem Campingplatz, drei Häusern und einem guten sortierten Supermarkt mitten in der Pampa (Gurkeeeee!). Die nächste Etappe geht dann in drei Tagen nach Tynset (kein Pausetag, versprochen!), wo mich mein Ersatzzelt erwartet.
Die Moral von der Geschicht
Was ich in diesen Tagen lerne: Am Schluss ergibt alles Sinn. Und zwar nicht das Schöne trotz des Schwierigen, sondern das Schöne mit dem Schwierigen zusammen. Der Genuss eines Flussbades erzählt mir, warum es vorher so schwer sein musste. Der innere Frieden erklärt sich durch die schwierigen Gefühle, durch die ich erst durchmusste (nur die Mückenplage kann ich da irgendwie nicht ganz einordnen ...). Das eine geht nicht ohne das andere, es bedingt sich gegenseitig. Nur beide Extreme zusammen geben der Reise wirklich ihren Wert. Es ist die ständige Suche nach einem Gleichgewicht. Und es ist die Erkenntnis, dass sich alles wie nach einem Gesetz immer ausgleichen wird. Das schafft Vertrauen ins Leben.
Singschwäne
Ein Kiebitzregenpfeifer im Prachtkleid – glaubt zumindest mein lebendes Vogellexikon zu Hause (Danke für die Recherche!)
Das ist alles nur geklaut
Gute Ideen darf man ja klauen, oder? Simone und Stephan haben in ihrem Blog öfter mal einen eigenen Absatz für Dankeschöns eingebaut. Das übernehme ich nur zu gerne. Denn es gibt viel zu danken. Allen Leuten, denen ich bisher auf dem Weg begegnet bin, für die Herzenswärme, die Gespräche, Fragen und Erzählungen, für gemeinsames Lachen und die Offenheit einer Fremden gegenüber.
Danke an alle (Bekannten und Unbekannten), die hier mitlesen. Seien es Kommentare, Mails, Chatnachrichten oder stille Gedanken – sie kommen alle bei mir an, begleiten mich und geben mir das Gefühl, sicher zu sein. Egal, wie sehr ich hier oben rumwurschtle, ihr seid da.
Danke an alle, die mit mir telefonieren und viel Geduld und Verständnis haben, wenn es dann doch mal emotional wird (und das wird es oft), wenn ich plötzlich wieder daran erinnert werde, wie weit das Zuhause doch weg ist. Trotz Tränen gibt es in solchen Situationen nichts Schöneres als die ehrliche (und hier oben sehr spärliche) Frage danach, wie es mir geht!
Ihr seid die Größten, ihr macht mich auf die schönste und beste Art reich ... und ohne euch wäre ich überhaupt nicht hier!
Määäh, können wir mit?!
Trailsound 5: Ryan Keen "Skin and Bones" (https://youtu.be/DhPeziHWdAk); übrigens einer meiner größten Ohrwürmer auf meiner allerersten Weitwanderung, dem GR11
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