Start: Oslo (2.6.)
Ziel: Elverum (8.6.)
Distanz: 198 km (gesamt: 573 km)
Zeit: 7 Tage (gesamt: 24)
Status: Neustart im Gebüsch
Oslo
In der Stadt merke ich, dass mich die allermeisten Konsumangebote gar nicht reizen. Außer Bücher. Ich wäre so gerne in einen Buchladen gegangen und hätte mir ein Buch gekauft. Nach dem Cambrian Way in Wales habe ich das gemacht. Dort wurde es das Buch "Wild" von Cheryl Strayed. Dieses Mal verspreche ich mir, es genauso zu machen: Ganz am Ende werde ich in den ersten Buchhandel gehen und mir ein Buch kaufen.
Auch Øystein ist eine Bücherratte und hat eine Wand voller Bücher. Unter anderem finde ich dort "Alt jeg ikke lærte på skolen" (Alles, was ich nicht in der Schule gelernt habe) des norwegischen Autors Erling Kagge. Daher passend für alle, die gerne einen Fuß vor den anderen setzen, unten am Ende dieses Blogs eine Buchempfehlung.
Spät am Vormittag verlasse ich Stadt wie Bücher, samt Essen für sieben Tage, weil ich am nächsten Supermarkt sonntags vorbeikomme. Oslo ist erstaunlich grün und kommt mir sehr lebenswert vor. Überall gibt es Sitzmöglichkeiten, die Leute genießen die Sonne, ich den Fliederduft. Fast eine Stunde lang laufe ich einen Stadtbach entlang.
Dann stehe ich im Wald, in der Oslomarka. Die Pfade sind genau so, wie ich sie mir gewünscht habe: Wurzeln, Erde, Steine! Ich genieße das einfache Gehen auf diesem Untergrund, bis ich an den See komme, an dem man gut zelten kann. Dass ich an diesem schönen Fleck am Freitagabend nicht die Einzige bin, hätte ich mir denken können. Das Ufer des großen Sees ist bevölkert mit Menschen – Großgruppen, Familien, die Osloer Jugend. Grundsätzlich feiere ich es total, dass die Wochenend-Beschäftigung von Jugendlichen ist, am See zu campen, zu fischen und in Hängematten zu chillen. Heute Abend fühle ich mich ziemlich überfordert von den Leuten, dem Kindergeschrei und der Musik von der Boombox, die über das Wasser schallt. Erst jetzt merke ich, dass die letzten Tage doch sehr anstrengend waren.
Weg im Wald, stellvertretend für die meisten Tage auf diesem Abschnitt
Weg ohne Wald. Danke für nichts.
Der Tag, an dem ich beinahe trockene Füße gehabt hätte
Nach mäßig gutem Schlaf beginnt der nächste Tag wieder mit Wald. Und entsprechenden Wegen. Die ganzen nächsten Tage werde ich längere Strecken in einem Tunnel aus Heidelbeeren, Buschwindröschen (Gruß an Lisa ;) ), Kiefern und Tannen verbringen. Nun schmatzt nicht mehr jeder Schritt vor Wasser, sondern die trockenen Fichtenzapfen schnurpsen unter meinen Füßen. Die meisten sumpfigen Passagen sind mit luxuriösen Holzplanken ausgelegt, die jedes Mal Jubelrufe bei mir auslösen. Auch für den Schatten bin ich bei dem unbeirrt strahlenden Wetter sehr dankbar. Ich treffe ein paar Trailrunner*innen, sonst ist es sehr still. Der Tag wird lang, die letzten Kilometer zäh, aber eine Runde Schwimmen ist immer drin. 300 Meter vor dem Ziel küsst dann doch noch der Sumpf meine Füße (nasse Schlabberküsse muss man mögen). Als ich aber vor der Råbjørnhytta stehe, ist das vergessen. Welch ein Ort, welch eine Belohnung! Die Hütte steht auf einer kleinen Wiese gleich an einem malerischen See. Gerade verabschieden sich ein paar Männer, die mir erzählen, dass sie die Hütte geputzt haben, für die man einen extra Schlüssel braucht. Ich wollte sowieso zelten, solange das Wetter so gut ist. Dann sitze ich alleine mitten in diesem Paradies, löffle genüsslich mein Trockenfutter und schaue dem Sonnenuntergang zu. Die ganze Anstrengung des Tages fällt bei diesem Schauspiel von mir ab. Die Vögel singen nur für mich in die Abendluft, die Wolken bilden ein schüchtern-farbiges Schauspiel am Himmel und der See spiegelt es in einem Mosaik zurück. Welch ein Frieden. Heute schlafe ich tief und fest.
Schon ganz okay hier ...
Der Tag, an dem ich tatsächlich trockene Füße hatte
Am nächsten Tag spüre ich, dass ich mir zu lange Etappen vorgenommen habe. Insgesamt dreimal bin ich in den sieben Tagen mindestens 35 km gelaufen. Rein körperlich ist das alles möglich. Aber das ist ja nicht der Zweck, ich muss mir nichts beweisen. Wenn ich so lange Strecken vorhabe, laufe ich schneller, fühle mich gehetzt, genieße die Pausen weniger und komme nicht richtig auf dem Weg an. Dann geht schnell der Sinn des Ganzen verloren. Ich nehme mir vor, für den nächsten Abschnitt höchstens 25 km pro Tag einzuplanen.
Erst mal muss ich aber das weite Tal von Eidsvoll durchqueren. Wieder 25 km Forstwege und Straße. Konnte ich bisher quasi ohne Wasservorräte gehen, weil hier selbst die Seen Trinkwasserqualität haben, so geht mir hier zum ersten Mal fast das Trinken aus. Den Schmodderbächen im Tal vertraue ich dann doch nicht. Nach Eidsvoll sind es aber nur noch ein paar wenige Kilometer bis zu einem kleinen Pilgerrastplatz, bei dem man laut DNT zelten kann. Als ich müde und durstig dort ankomme, bekomme ich zum zweiten Mal eine echte Belohnung für den langen Tag: nicht nur frisches, köstliches Wasser, sondern eine Außendusche, eine herrlichen Terrasse mit Aussicht, ein niedliches Häuschen mit Küche und ein paar Grundnahrungsmittel im Kühlschrank (wie etwa Eis)! Und wieder darf ich (nur unter etwas anderer Geräuschkulisse: Motorräder und Traktoren!) den Sonnenuntergang genießen.
Frühstück auf einer verlassenen Alm
Sonnenuntergang Nummer zwei
Pilgern auf Norwegisch
Am nächsten Morgen will ich gerade die Tür hinter mir zuziehen, da laufen zwei Mödelsan am Haus vorbei. Schnell erfahre ich, dass Michelle und Juliane auf dem Olavsweg unterwegs sind, ein Pilgerweg, der von Oslo nach Trondheim führt und sich ein paar Kilometer mit dem Rondanestien teilt. Nach kurzem Überlegen entscheide ich mich, mich von ihnen etwas runterbremsen zu lassen und ihr Tempo mitzulaufen. Ein super Entscheidung! Ich bin entspannt und froh, die längeren Strecken Forstweg mit netten Gesprächen zu füllen. Wir machen eine Pause an einem wunderschönen Badesee (wenn das so weitergeht, werde ich nie den Zustand absoluter Verdrecktheit erreichen!) und an einem weiteren, bevor sich unsere Wege trennen. Danke für den Kuchen, by the way! Ich staune, wie sich mein Zeitgefühl verschiebt. Trotz des langsameren Tempos kommen wir gut voran. Es ist so viel Zeit übrig. Ein Paradoxon, dem ich auf Tour schon öfter begegnet bin, das so unlogisch wie selbstverständlich einleuchtend ist: Je langsamer man ist, desto mehr Zeit hat man. Ich versuche einigermaßen erfolgreich, das Tempo bis zur DNT-Hütte Gammelsaga durchzuhalten und kann dort ganz allein den nächsten Sonnenuntergang betrachten. Welch ein Luxusurlaub, hier im Süden Norwegens!
Endlich sauber! (Und danke für das Bild, Michelle!)
Tunnelblick
Die nächsten Tage ähneln einander. Der Weg führt fast die ganze Zeit durch den Wald-Tunnel, nur unterbrochen von gerodeten Flächen, auf die die Sonne runterbrennt. Es macht Spaß, mich darin zu verlieren, den verschlungen Pfaden zu folgen, ohne genau zu wissen, wo ich gerade bin. Der Weg ist meistens super markiert, ich muss mich also nur sporadisch um Navigation kümmern. Auf Dauer wird es aber etwas eintönig. Jeder Hügel ist austauschbar, selten habe ich Aussicht auf die umliegende Landschaft. Aber ich kann ja auch nicht erwarten, dass auf 2700 Kilometern die Landschaft täglich wechselt! Also noch eine gute Gelegenheit, um Geduld und Langsamkeit zu üben.
Ich scheine die Einzige zu sein, die jetzt diesen Weg geht, denn ich treffe niemanden und sammle unterwegs kiloweise Spinnweben ein. Wenn ich sie mit den Stecken vor mir einsammle, kann ich vielleicht bald ein Shirt daraus nähen. Außerdem kommen zunehmend Mücken dazu, das Sirren begleitet mich jeden Tag und macht die Abende leider nicht mehr ganz so zen-style. Ich übernachte an oder in Hütten, dazwischen ist es quasi unmöglich, Zeltplätze sind im Gebüsch rar. Dafür hab' ich die kleinen Häuschen vom DNT ganz für mich. Das Gebiet hier ist nicht so stark frequentiert wie die Bergregionen und so sind die Hütten meist einfach und sehr gemütlich (koselig, wie man hier sagen würde): ein Raum mit Ofen, Tisch und ein paar Betten. Wasser gibt es draußen. Mehr braucht man nicht nach einem langen Wandertag!
Die Gammelsaga von außen: Wo kann man schöner Tagebuch schreiben als hier?
Die Tingstadkoia von innen: Hierher bin ich vor den Mücken geflüchtet
Elverum
Puh, nachdem der letzte Badesee mir nach zwanzig Meter Waten immer noch bis zum Knie ging und die Hütten nur eingeschränkt Wasser hatten (musste man in Kanistern aus einem Brunnen holen), nach Sonnencreme und Mückenspray, Nadeln unterm Shirt und einer nicht unerheblichen Menge Schweiß, ist eine Dusche am Campingplatz doch eine ganz schöne Angelegenheit! Den Nachmittag und Abend verbringe ich mit Wäschewaschen, der Planung für den nächsten Abschnitt, Telefonieren und Einkaufen (Guuurkeeee!!!). In Atnbrua in der Rondane gibt es den nächsten Supermarkt. Das sind knapp 8 Tage. Ich freue mich schon darauf, endlich höhere Berge in Sichtweite zu haben!
Ankommen
Ankommen ist ein Motiv, das mir oft in meiner Gedankenwelt begegnet. Ich würde gerne ankommen. Am Übernachtungsplatz, am Pauseplatz, am nächsten See, am Supermarkt, in den hohen Bergen. Am Nordkap. Zu Hause. Sobald ich irgendwo angekommen will, fällt es mir schwerer, mit meiner Aufmerksamkeit genau da zu sein, wo ich bin. Ich fange an, auf etwas zu warten, das in der Zukunft liegt.
Ankommen scheint wichtig zu sein. Aber die Frage ist ja eigentlich, wo will ich denn ankommen? An einem Ort? Auf einem Weg? Bei einer Aufgabe? Bei mir selbst? Kann man überhaupt je ankommen?
Immer wieder wirft mich dieser Wunsch darauf zurück, dass das Nordkap nur das geographische Ziel meiner Reise ist. Ein Mittel zum Zweck. Ein Platzhalter für etwas ganz anderes. Ich wollte gerne mehrere Monate mit Erlebnissen füllen, von denen ich hoffe, dass sie vielfältig und intensiv sind. Wenn Ankommen etwas mit einem physischen Ort zu tun hätte, würde ich auf der ganzen Strecke nicht ankommen, bis ich wieder zu Hause sitze. Und wäre ich dann wirklich angekommen?
Ich kann das Ankommen besser verstehen, wenn ich es als eine Art Gefühl sehe. Dann kann ich nämlich plötzlich überall ankommen. Ich glaube, jede*r von uns kennt dieses Gefühl. Ob beim Gehen, bei einer Arbeit oder Aufgabe, einem Musikstück, einem Buch, an einem Ort oder bei einem Menschen. Erst ist da ein Verlorensein, eine Spannung, eine Sehnsucht. Vielleicht viele Gedanken über etwas ganz anderes. Oft Ungeduld. Und dann ist man plötzlich da. Angekommen bei dem, was gerade passiert. Manchmal braucht es dazu nicht mal einen Ortswechsel. Ein einziger Gedanke kann helfen, die Perspektive auf die Situation zu ändern. Dann fällt die Spannung ab, verschwindet die Ungeduld. Manchmal denke ich dann: Ja, hier bin ich. So bin ich jetzt. So einfach. Unspektakulär. Und befreiend: Ich muss ja gar nicht irgendwohin, um anzukommen! Aber ich musste erst verloren gehen, um das zu verstehen.
Vielleicht ist verloren zu gehen die einzige Möglichkeit, um anzukommen. Ich glaube, das ist ein zentraler Grund, zu reisen.
Wie das auf diesem Plumsklo mit der Schwerkraft funktionieren soll, weiß ich auch noch nicht so genau (hab's lieber nicht ausprobiert!)
Trailsound 4: Bongo Botrako "Todos los días sale el sol" (https://youtu.be/2Fy8P1MVfsQ), um das Bombenwetter zu feiern
Buchempfehlung: "Gehen. Weiter gehen. Eine Anleitung" von Erling Kagge (nach meiner Rückkehr auch bei mir zum Ausleihen verfügbar :) )
Du hast so viel Recht... wenn man nur an das Ziel denkt, dann kommt man nie an. Vielen Dank auch für die Zeit, die du dir gibst, schöne Fotos mit dir für uns zu machen!
Hallo Katharina,
ich bin im letzten Jahr NPL von Halden zum Nordkapp gelaufen und auch durch Eidsvoll und Elverum gekommen und habe in der Gammelsaga übernachtet. Schön, diese Bilder wieder im Kopf zu haben. Ich bin dann jedoch nicht ins Rondane gewandert, sondern auf den südlichen Kungsleden gewechselt. Den wollte ich eigentlich bis Storlien gehen, aber der Schnee hatte mir nördlich von Fjällnäs einen Strich durch die Rechnung gemacht. In diesem Jahr liegt dort lt. Senorge bedeutend weniger und diese Strecke wäre machbar. Von Storlien kannst Du direkt ins Sjækerfjell einsteigen. Falls Du Infos dazu brauchst: npl2022.blogspot.com
God tur videre! Manja
Hallo Katharina!
Wir haben uns auf dem Campingplatz in Elverum getroffen und ich habe jetzt Mal alles der Reihe nach gelesen. Vieles gibt mir zu denken, auf gute Weise. Es ist eine beeindruckende Aufgabe, die du dir da gesetzt hast, aber wenn ich das so lese werde ich ein bisschen neidisch. Ich werde das ganze auf jeden Fall hier verfolgen und wünsche dir (auch von meinen internationalen Freunden Brad & Kateřina) ganz viel Spaß und eine tolle Zeit!
Marko