Start: Sulitjelma (1.8.)
Ziel: Ritsem (5.8.)
Distanz: 101 km (gesamt: 1710 km)
Zeit: 4 (einhalb) Tage (gesamt: 83)
Status: Grenzgängerin
Auf ins Nachbarland!
Der Abschied von der Zivilisation fällt mir mal wieder schwer. Aber nur, bis ich den steilen Anstieg zu Beginn überwunden habe. Mit meinem Monsterrucksack mit Proviant für neun Tag, der im Moment etwa 18 kg wiegt (ich konnte es mir nicht verkneifen, trotzdem eine Gurke einzustecken!), muss ich erst mal einige Höhenmeter steil bergauf machen. Das bin ich aus Norwegen gar nicht mehr gewöhnt! Und so schnaufe ich bergauf und mache Geräusche wie eine Gewichtheberin bei einem Rekordversuch. Zumindest fühle ich mich nach der Pause fit und ausgeruht. Und die Landschaft wird mit jedem Höhenmeter schöner: rau, steinig und karg. Die Wolken hängen schwer und verkünden Regen. Sie schaffen einen tollen Kontrast zu den hohen Zacken auf allen Seiten, zwischen denen größere und kleinere Gletscherreste liegen.
Auf der Sorjushytta mache ich eine Pause. Vom Fenster aus schaue ich durch den Nieselregen über den See, der so südseeblau leuchtet, als gäbe es keine Wolken. Ich werde nicht satt, die Farbe mit meinen Augen aufzusaugen. Auch später nicht, als ich durch den Wind in Richtung schwedische Grenze stapfe und genau jenes eiskalte türkisene Wasser an einer breiten Furt durchquere.
Fifty shades of grey
Die Südsee, zumindest farblich; fast nicht sichtbar: die Sorjushytta direkt am "Strand"
Tolle Brücke: führt über die Hälfte des Bachs
Meine Route führt nach Schweden und wird mich erst nach Abisko wieder zurück nach Norwegen führen. Viel habe ich über die schönen schwedischen Wanderwege gehört, mit ihren Holzbohlen, dank derer die Schuhe samt Füßen auf ewig trocken bleiben. Direkt nach der Grenze erwartet mich allerdings erst mal wieder Sumpf. Habe ich schon mal erwähnt, wie sehr ich Sumpf hasse?
Zum Glück sind es nur noch ein paar Kilometer bis zur kleinen, offenen Hütte Sårjåsjaure. Hier werde ich übernachten. Ich kann es mir trotz Wind und Kühle nicht verkneifen, das Südseewasser noch mal mit dem ganzen Körper auszukosten. Dann fühlt es sich meistens viel weniger kalt an als nur an den Füßen beim Furten (versprochen, probiert's aus!). Als draußen der Regen einsetzt, bin ich sehr zufrieden mit meinem Tag und höre dem Bettnachbarn zu, der übermorgen für acht Tage in den Sarek-Nationalpark starten will. Ich dagegen werde mit ständigem Blick auf dessen felsige, steile, vergletscherte Schönheit in den folgenden Tagen daran vorbeilaufen.
Trockene Schuhe und schmerzende Knie
Am nächsten Tag kann ich dann wirklich den ersten Tag trockene Schuhe seit Wochen feiern! Der Weg führt mich entlang des Padjelantaleden, der über sanfte grüne Hügel und vorbei an riesigen Seen führt. Ich laufe durch weitläufige, saftig grüne Täler mit reißenden Flüssen, die sich ihren Weg durch die fein geschichteten, dunklen Schiefersteine suchen. Von überall aus hat man Aussicht in die Weite und Ferne, zum Blåmansisen, in den Sarek und auf schneebedeckte Gipfel.
Das Wetter kann sich in diesen Tagen nicht ganz entscheiden, es kommt mir vor wie im April. Kurze Regenschauer wechseln sich ab mit Sonnenschein und starken Windböen. Der Himmel bleibt an den höchsten Gipfeln hängen und wabert um sie herum.
Mitten in der Szenerie finden sich riesige Seen. Das hier ist Sapmi, das Land der Sami. Es gibt kleine Dörfer mit ein paar zerstreuten Häusern. Einige Berghütten werden von den Sami betrieben. Sie verkaufen dort manchmal Rentierfleisch, Räucherfisch und ihr traditionelles Brot, eine Art Fladenbrot.
Mitten in dieser kulturell sowie landschaftlich spannenden Umgebung meldet sich mein Knie wieder. Mist! Die körperliche Energie hätte ich, um lange Tage zu machen und somit mit dem Essen hinzukommen. Jetzt muss ich schon wieder kürzer treten. Darauf habe ich gar keine Lust. Die Mücken sind hier wieder Chefs der Pausen und machen das Draußensein weniger gemütlich. Keine guten Voraussetzungen für Gemütlichkeit und lange Stopps draußen. Und plötzlich geht es mir wieder gar nicht gut. Mein Körper will nicht, wie ich will. Ich habe keine Lust auf kurze Tage, ich will laufen. Außerdem hab' ich dann nicht genug Proviant und müsste ihn nachkaufen.
Zwei besondere Begegnungen
Als ich bei der Hütte Árasluokta ankomme, drehen sich die Gedanken schwer um die nächsten Tage. Aber als ich die Tür zu einer der kleinen Hütten aufmache, lacht mich Sorka an, die gerade Kaffee kocht. Dass sie mir die Möglichkeit gibt, einen kurzen Tag in Gesellschaft zu verbringen, was immer einfacher ist als allein, ist nur ein netter logistischer Nebeneffekt. Wir verstehen uns auf Anhieb gut.
Und erleben gleich abends ein echtes Highlight der Tour: Als der Hüttenwart Rickard zum Kassieren kommt geraten wir ins Gespräch mit dem Samen. Erst laden wir ihn auf einen Tee ein, dann er uns. Diese Einladung können wir selbstverständlich nicht ausschlagen. Es wird ein ganz besonderes Erlebnis. Seine Hütte steht in der Sami-Siedlung direkt neben den Wanderhütten. Wir laufen hinüber und werden in eine einfache, gemütliche Hütte geführt. Rickard spricht schwedisch mit uns, wir einen norwegisch-schwedisch-englisch Kauderwelsch. Es funktioniert.
Eine gute Stunde lang erzählt er uns von seinem Leben. Wie die Rentiere gehalten werden, wie sie die verschiedenen Herden trennen, wie das Leben hier im Winter ist. Welche Schwierigkeiten mit dem Klimawandel aufkommen. Unberechenbares Wetter, Schnee und Regen im Winter, was durch Eisbildung die Nahrungssuche der Tiere kompliziert macht. Die Regeln, auf die sich seine Großeltern bei der Wettervorhersage verlassen konnten, funktionieren nicht mehr. Er erzählt, wie er gelernt hat, die Natur zu lesen. Familienwissen, das immer weitergegeben wird. Es steht in keinem Buch und wird nicht an der Uni gelehrt. Er betont immer wieder, wie wichtig dieses Wissen ist und dass man es nicht auf der Schulbank oder aus einem Buch lernt. Dafür muss man rausgehen. Ein Leben mit den Rentieren leben. Er verzichtet auf Strom, Wasser aus der Leitung, Internet und Empfang, um seine Form von Freiheit zu leben. Alle täglichen Handlungen, die aus den Augen einer weichgewaschenen Zivilisation beschwerlich klingen, machen für ihn Sinn. Er weiß, warum es wichtig ist, selbst das Wasser zu holen statt ein Leitungssystem in alle Hütten zu legen.
Und er sagt, wie wichtig es ist, dass jede*r von uns sich einbringt. Erst wenn alle ihre Stimme nutzen, sind wir stark genug, den vielen Krisen ins Auge zu sehen. Wir merken, wie sehr ihm der Lebensstil seiner Kultur am Herzen liegt, wie sehr er sich wünscht, gehört und verstanden zu werden von uns, von der Welt. Ich lese heraus, dass er mit seiner Lebensart oft auf Unverständnis stößt. Besonders, wenn kommerzielle Interessen ins Spiel kommen. Da können noch so viele Sami-Museen gebaut werden. Wenn Feuerholz wichtiger ist, wird der Wald gerodet. Öl verbrannt. Seltene Erden aus dem Boden gegraben. Dann ist das Verständnis für diese Lebensart und die einzige Natur, in der sie möglich ist, vorbei. Dabei geht es genau darum, die Grenzen der Natur zu akzeptieren, auch wenn das Verzicht bedeutet. Kluge Menschen sehen darin Freiheit.
Wir gehen durch den Regen zurück zur Hütte. Hier gibt es keine befestigten Straßen, keine Laternen. Nur ein paar Häuser und Trinkwasser aus dem großen See. Das Gespräch hat mich beeindruckt und sehr berührt. Seine Worte und sein Wissen kamen von einem Ort, den wir gerne vergessen, wenn wir versuchen, Wissen messbar zu machen. In seinen Worten lag eine Klarheit, aus der eine tiefe Wahrheit spricht. Er lebt das, was er weiß.
An dieser Stelle möchte ich noch ein kurzes Zitat aus einem von Sami gestalteten Infoblatt einfügen, das mich ebenso bewegt hat wie das persönliche Gespräch mit Rickard:
"Samische Kultur ist, Ruhe zu haben. Geduld ist die einzige mögliche Haltung von Menschen, die weder die Natur besiegt haben noch glauben, sie besiegen zu können."
Die Flagge der Sami
Zur Låddejåkkå
Der nächste Tag ist ein Geschenk für mein Knie und meine Seele. Kurz und sozial. Sorka und ich laufen durch viel Wind über einen Hügel und sind dann auch schon bei der nächsten Hütte. Da bleibt viel Zeit zum Teetrinken, Ratschen und Entspannen. Es tut wahnsinnig gut, zu zweit zu sein. Manche Menschen sind wie Inseln auf einer anstrengenden und schwierigen Überfahrt übers Meer. Sie bieten Schutz und die Möglichkeit, mich kurz auszuruhen, Kraft zu tanken, etwas Ballast abzuladen und hoffentlich auch ein paar Edelsteine ... Danke für deine Insel, Sorka!
Gesteinsformation auf dem Weg zur Låddejåkkå - oder gibt es hier doch Drachen ...?!
Teetrinken im Wind mit Sorka
Die Låddejåkkå im Sonnenuntergang
Ein Tag wie ein Bergbach
Am nächsten Tag wendet sich plötzlich wieder alles. Ich wache nachts auf und kann nicht mehr einschlafen. Früh morgens muss ich plötzlich wieder weinen. Genau weiß ich gar nicht warum, aber auf einmal kommen mir schon die zwei Tage bis nach Ritsem wieder unüberwindbar vor. Sorka ist eine gute Zuhörerin. Sogar morgens. Ich weine mich aus und versuche, meine Gedanken zu ordnen. Ich glaube, mich strengen die schwankenden Emotionen einfach sehr an. Und die Aussicht, diese noch so lange zu ertragen. Sollte ich doch schon früher aufhören? Welche Gründe habe ich, mich zum Weitergehen zu zwingen? Bisher gab es immer genug Gründe, trotz Schwierigkeiten.
Aber vielleicht sollte ich diese Frage noch mal überdenken. Wichtig war mir beim Wiedereinstieg, nicht noch mal in dieselbe verzweifelte Situation zu kommen. Das ist mir wichtig. Ich mache die Tür wieder etwas auf zu einem früheren Ausstieg. Warum fällt mir diese Entscheidung so schwer? Will ich mir etwas beweisen? Habe ich das Gefühl, es mir zu leicht zu machen? Darüber muss ich nach zweieinhalb Monaten Laufen fast selbst lachen. Wie fühlt es sich an, mir einen Ausstieg in Abisko vorzustellen? Die Tür zu Alternativen öffnet sich ein wenig und sie nimmt mir etwas von der Schwere der Tränen. Diese Frage kann ich mit in den Tag nehmen. Nach dem Frühstück habe ich mich etwas beruhigt. Ich verabschiede mich von Sorka und laufe wieder los.
Wie immer heilt das Gehen viele Wunden. Schon nach dem kurzen Aufstieg fühle ich mich viel besser. Das Weinen hat mich sehr müde gemacht. Aber auch dieser Tag wird nicht zu lang, und am Nachmittag stehe ich vor der Kutjaure, einer Hütte des STF, des schwedischen Bergvereins. Sie liegt an einem Fluss, und wie der Tag es will, kommt am Abend die Sonne heraus. Die Hütte ist gut besucht, aber heute bin ich zu müde für große Kontaktaufnahmen. Viele Menschen machen manchmal einsamer als wenige. Ich laufe zum Fluss hinunter. Es ist ein tosender Wasserfall, der in Kaskaden über den Schiefer bricht, um sich dann in rundgewaschenen Becken zu sammeln. Einer der schönsten Badeplätze bisher. Ich tauche in das kühle Nass ein und wundere mich, wie dieselben Wassertropfen, die gerade noch den Wasserfall hinunterrauschten, hier einen ruhigen Ort zum Baden bieten. Als ich mich von der Sonne trocknen lasse, komme ich langsam zur Ruhe. Die Strahlen tun so gut auf der Haut. Wenn eine Windböe aufkommt, spritzt etwas Gischt zu mir herüber, die mir eine Gänsehaut macht. Auf einmal kommt mir dieser Tag vor wie der Bach. Tosend und wild, scheinbar ohne Kontrolle. Und plötzlich ruhig und tief, ohne dass ich die räumliche und zeitliche Dimension der Veränderung wirklich verstehen kann. Ob die Wassertropfen darauf vertrauen, dass sie irgendwann mal im Meer landen werden? Hier verstehe ich, dass ich mich nicht falsch entscheiden kann. Alles ist richtig. Alles fließt zum Meer.
Ich mache gerne Fotos. Wenn ich versuche, meine Tour fotografisch festzuhalten, schärft sich mein Blick. Ich sehe die Landschaft anders und beobachte Details, Farben und Formen genauer. Aber es gibt manche Momente, die würden durch ein Foto zerstört werden, wie dieser Moment an dem Bach oder mit dem Samen Rickard. Sie würden kleiner werden, ihre Schönheit würde geschmälert werden. Es gibt viele Momente auf dieser Reise, von denen ich keine Fotos habe, so toll sie auch waren. Ich brauche diese Momente. Es sind die undokumentierten Perlen des Augenblicks, die nicht in einen Blog passen.
Cheating über den See
Am nächsten Tag starte ich früh, denn ich will noch die Fähre über den riesigen See Akkajaure nach Ritsem bekommen. Ein paar Kilometer hinter der Hütte frühstücke ich an einem schönen Bach. In diesen Momenten fällt mir die Vorstellung schwer, irgendwann Abschied zu nehmen. Dann geht es an Seen weiter, immer mit etwas Nieselregen im Rücken. Erst als ich absteige, wird es wieder sonnig. Hier ernte ich massenhaft reife Blaubeeren.
Am Ufer warte ich auf das Boot. Bei der Überfahrt schlafe ich fast ein, den Kopf an die Scheibe gelehnt. Ich bin so müde, von allem. Aber ich habe geplant, noch etwas weiterzugehen, um die nächste Etappe zu verkürzen.
Erst mal aber lege ich einen kurzen Zwischenstopp in der Ritsem Fjällstasjon ein, wo ich nach fünf Tagen wieder WLAN habe. Ich checke das Wetter und halte kurz Kontakt zur Zivilisation. Dann geht es weiter. Vor mir liegt die Etappe bis Abisko, etwa fünf Tage lang. Lieber wäre ich hiergeblieben, so müde fühle ich mich. Aber ich will auch endlich ankommen. Und deshalb laufe ich von Ritsem noch ein paar Kilometer in die nächste Etappe, um die Strecke zu verkürzen.
Aufhören: How to
In einer gewissen Dimension fällt mir die Entscheidung zum Aufhören nicht schwer. Es gibt so viele eindeutige Signale. Ich bin müde vom Wandern, körperlich, emotional und geistig. Ich will nicht weiterwandern, nur weil ich das Gefühl habe, ich müsste. Meine Knie sagen mir, dass sie eine längere Pause ohne Zusatzgewicht auf dem Rücken brauchen. Mein Magen sagt mir, dass eine Gurke in zehn Tagen auf Dauer nicht genug ist. Und ich merke, wie sehr mich das Denken rund um die Tour, das Vorausplanen, mit dem Wetter rechnen und das Umplanen, die Unsicherheiten auf dem Weg mich anstrengen. Ich sehne mich danach, endlich mal wieder in einer Situation zu sein, in der ich emotional einigermaßen stabil bin. Das tägliche Auf und Ab auf dieser Tour zehrt an den Nerven.
Nicht zuletzt macht mir die lange Etappe nach Kilpisjärvi Sorgen. Hier gibt es keine bewirtschafteten Hütten, wo ich notfalls Essen nachkaufen kann. Ich werde viel schleppen müssen. Und mit dem Knie muss ich mehr Puffer-Proviant einrechnen. Das Einzige, was vermutlich in die Kategorie Ausrede fällt, ist die Tatsache, dass ich absolut keine Lust mehr auf Sumpf habe.
Kurz: Alle Signale sagen mir, dass es genug ist.
Und wenn ich mich dazu überwinde, es zu akzeptieren, ist "Genug" ein gutes Gefühl. Es bringt Frieden in diese Entscheidung. Es ist ein Akt des Mutes und der Freiheit, diesem Gefühl ohne Reue oder schlechtes Gewissen zu folgen. Ich werde in Abisko aufhören und zufrieden damit sein. Und auch diese Entscheidung wird mir viel lehren.
Trailsound 14: David Orlowsky Trio "Juli" (https://youtu.be/P7nbvp1kyrs) - im Klezmer finde ich immer die Schönheit in der Gleichzeitigkeit von Trauer und Freude
Nachtrag: Trailsound 14.2: Hildá Länsmann, Lávre "Jođi" (https://youtu.be/K2Ru_Gsf80Q) - in dieses Kapitel muss dringend noch ein Song der Sami. Sorka hat mir diesen Tipp gegeben, sie hat im Sommer auf einem indigenen Musikfestival geholfen und dort einige live-Auftritte erleben können
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