Start: Abisko
Ziel: München
Distanz: 3000 km Zugstrecke
Tage: 3
Status: Puzzleteil sucht Puzzle
Die Deutsche Bahn in Schweden
Nachmittags steige ich in den Zug in Abisko, der Schlafwagen hätte haben sollen. Das Unwetter im Süden Schwedens hat offenbar aber die Bahnpläne durcheinandergebracht, weswegen wir erst später in den Zug umsteigen werden und vorerst in einem Ersatzzug unterwegs sind. An jedem Bahnhof steigen neue Menschen ein. Menschen mit großen Rucksäcken und leuchtenden Augen, die nach Abenteuer und Draußensein riechen. Hier komme ich mir nicht vor wie ein Freak. Im Ort Boden spuckt uns der Zug am späten Abend aus, wir müssen auf den Schlafzug warten. Der Himmel ist sehr dunkelblau. Ein wunderbares Dunkelblau. Wie sehr ich die Dunkelheit doch vermisst habe. Genau diese Farbe, die Stimmung, wenn das Licht sich zum Horizont zurückzieht und nur noch einen roten Streifen hinterlässt, während die andere Seite des Himmels schon fast schwarz ist. Jetzt habe ich die Nacht wieder.
Der Schlafzug hat eine Stunde Verspätung, der volle Bahnsteig ist von dreckigen Wanderhosen, großen Rucksäcken, entspannten Gesprächen und ein paar müden Gesichtern gefüllt. Keine gestressten Menschen im Businessanzug, keine keifenden Angriffe auf die Bahnmitarbeitenden. Vielleicht ist dies ein etwas verzerrtes Bild einer schwedischen Gelassenheit, aber ich mag es. Warten ist einfacher so. Besonders, als auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig ein Mann auftaucht, der uns laut, salbungsvoll und mit einem leichten ironischen Unterton zuruft, wenn wir hier schon so viel Zeit haben, könnten wir sie einfach nutzen, um glücklich zu sein. Er schafft es, den gesamten Bahnsteig zum Lachen und Beifallklatschen zu bringen.
Dann kommt endlich unser Zug:
... Ach ne, das war er doch noch nicht ...
Trotz Gelassenheit sehe ich viele erleichterte Gesichter, als endlich der (richtige) Zug einrollt. Ich bin lange nicht mehr mit einem Schlafzug gefahren und freue mich auf die Nacht im Liegen. Ich habe ein Frauenabteil gewählt, was eine ruhige Nacht verspricht. Wir richten es uns gemütlich ein und lassen uns dann vom Zug in den Schlaf schunkeln.
Das letzte Abteil im Zug hat hinten ein Fenster - toll!
Vergnügter Nachmittag in Stockholm
Mit vier Stunden Verspätung rollen wir am nächsten Tag in Stockholm ein. Wegen der starken Unwetter musste der Zug wohl oft langsam fahren oder stehen bleiben. Für die Nacht hab ich mich in einem Hostel eingemietet und habe nun den ganzen Nachmittag, um mir die schwedische Hauptstadt anzuschauen. Wenn ich hier mehrere Tage wäre, würde ich hier vielleicht die 2000 km noch knacken ... Ich schlendere recht ziellos durch die Gassen, lasse mir Zeit. In der Altstadt suche ich mir spontan ein Restaurant, um mein Belohnungsessen für die abgeschlossene Tour nachzuholen. Jetzt bin ich total in der Stimmung dazu. Ich sitze draußen, kann das Treiben auf der Straße und im Restaurant gegenüber beobachten, und wie die Sonne langsam um die Ecke wandert. Vergnügt lasse ich mir eine riesen Salatbowl schmecken. Manchmal ist Alleinsein so einfach! Danach kaufe ich mir das Buch, das ich mir versprochen habe, in einem kleinen, bunten Buchladen in einer schmalen Nebengasse. Auch ohne Rucksack bin ich nach der Strecke durch die Stadt heute ziemlich müde. Müde und glücklich.
Die Altstadt von Stockholm
Straßenkonzert
Belohnungsbowl
Auf dem Weg über Kopenhagen und Hamburg geht doch tatsächlich alles gut. Ich habe zwei Stunden Zeit, um mir in Kopenhagen die Beine zu vertreten. In Hamburg haben wir nur 20 Minuten Verspätung, sodass ich meinen Anschluss bekomme. Mit einer halben Stunde Verspätung komme ich dann früh morgens in München an, nachdem die Nürnberger Fußballfans im Abteil alle vom Schlafen abgehalten haben ... Alles wie immer also in der Deutschen Bahn.
Geschichten einer Heimkehrerin - eine Sammlung
Ich komme von einer Feier heim, dem ersten Ort, an dem ich Freund*innen wiedergesehen habe. Auf dem Heimweg leuchtet der Himmel mit Sternen. Sterne habe ich lange nicht mehr gesehen. Es ist wunderschön.
Endlich nicht mehr aus Ziplock-Beuteln leben. Endlich nicht mehr jeden Morgen dasselbe stinkende Shirt überziehen. Endlich nicht mehr zählen, ob das Klopapier für die nächsten Tage reicht. Endlich wieder wissen, wo ich nachts ins Bett gehen werde. Wen ich heute treffen werde.
Aber auch Abschied nehmen von stillen Nächten ohne Autolärm. Abschied nehmen von Wasser aus Bächen und unendlicher Natur. Goodbye zum spontanen Tagesablauf ohne Uhr. Tschüss zu einem weiten Himmel, der sich ohne Mauer dazwischen 24/7 über mich spannt. Ich fühle mich wie zwischen zwei Welten, in der einen nicht mehr und in der anderen noch nicht wieder daheim.
Smalltalk über lange Reisen ist manchmal anstrengend. Wie soll ich meine Reise in ein paar Worten zusammenfassen? Schön? Wäre mindestens eine sehr starke Vereinfachung.
Ich hole mein Fahrrad bei meiner Schwester ab. Es ist im letzten Monat mit ihrem ecuadorianischen Austauschpartner fremdgegangen. Kommt davon, wenn man die zweirädrige Liebe des Lebens zu lange verlässt ... Jetzt haben wir uns wieder. Hallo, Liebling! Sorry für den Solo-Trip. Nächstes Mal reisen wir wieder gemeinsam!
Als wäre ich ein Puzzleteil, das zu keinem Puzzle mehr passt.
Ich vermisse tägliches Baden in eiskalten Seen, mein Zelt, die Einfachheit von zwei Outfits zum Leben und die simpelste Aufgabe der Welt: Gehen. Ich freue mich über nächtliche Dunkelheit, Umarmungen von Freund*innen, Pinsel, Farben und duftendes Malpapier.
Wie kommt man an? Ich weiß es nicht. Heimat ist ein Ort. Aber nicht nur. Heimat sind geliebte Menschen. Aber nicht nur. Heimat ist in mir drin. Aber nicht nur.
Vielleicht ist Heimat etwas, das passiert. Vielleicht passiert Heimat, wenn man loslässt von allem, was nicht da ist. Wie so viele gute Dinge, die passieren, wenn man loslässt.
Ich wehre mich dagegen, wieder jemand sein zu müssen. Die Natur nimmt uns ohne Identifikationen. Wir sind dort keine Studierenden, keine Krankenpfleger*innen oder Lehrkräfte, wir sind keine Aktivisti, keine Angsthasen oder Draufgänger*innen, keine Genies oder Dummköpfe, keine Männer oder Frauen. Wir sind einfach. Aber wie soll so eine Jobsuche funktionieren? Smalltalk? Wer bist du? Ich bin halt. Noch Fragen?
Ich war zwei Tage Wandern und habe es genossen, nichts davon zu dokumentieren. Es gibt keine Fotos vom wundervollen Sonnenuntergang, weil ich damit beschäftigt war, ihn anzuschauen. Deshalb endet mein Bericht dieser zwei Tage auch hier. Es ist schön, von Erlebnissen zu berichten. Und es ist schön, nur zu erleben, ohne zu erzählen. Beides hat seine Zeit. Deshalb verabschiede ich mich hier, bis vielleicht ein nächstes Abenteuer auf mich wartet, das gerne in Worte gefasst werden will.
More or less the same
Am Ende ist es wie so oft: Ein Gefühl zwischen dem Eindruck, dass es so viele Veränderungen gab, aber ich am Ende doch komplett gleich geblieben bin. Ich habe so viele Erfahrungen gesammelt, Menschen kennengelernt, die mir die wertvollsten Momente und Learnings der gesamten Reise geschenkt haben, die mich verändert und geprägt haben. Ich habe mich bis an und über physische und innere Grenzen hinweg bewegt, ja, sie verschoben. Ich bin noch besser darin geworden, meine Weisheiten in blumige Worte zu fassen. Und bin doch immer noch dieselbe. Ich werde viel Gelerntes wieder vergessen, werde immer wieder stolpern. Ich werde denselben Problemen des Alltags begegnen, die ich zuvor schon nicht mochte. Ich werde mich in mir selbst verirren und es wird sich oft genug anfühlen, als wäre ich nie gewachsen. Ich werde einer Erkenntnis begegnen, die sich regelmäßig erst nach einer langen Reise zeigt: Das ist das Leben. Beides. Die freiwillig gewählten Herausforderungen einer Reise, genauso wie die nicht immer freiwillig gewählten Herausforderungen des Alltags. Manchmal klappt es, die Erfahrungen von einer Situation auf die andere zu übertragen. Ganz oft aber auch nicht. Ich kann für eine Weile die eine Sorte Herausforderung gegen die andere eintauschen (ein Privileg!). Aber ich kann sie nie alle abschütteln.
Das Leben besteht aus Hinfallen und Aufstehen (ja, und aus Krone richten), egal ob im Sumpf, bei einer Bachdurchquerung oder in Ausbildung, Job oder beim Versuch, alles in einen Alltag unterzubringen, der immer zu wenige Stunden hat. Darin sind wir alle gleich, ganz egal, wie viele Kilometer wir auf welchem Untergrund zurückgelegt haben. Darin sind wir lebendig. Und in dieser Lebendigkeit können wir uns begegnen und einander finden.
DANKE SCHÖN!!!
Auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole, spreche ich hier noch einmal aus, was ich so wichtig finde: Ein riesiges Dankeschön an alle, die irgendwie dazu beigetragen haben, dass mein Traum zu so einer wertvollen Erfahrung wurde. Als Allererstes an all die tollen Menschen, die ich unterwegs kennenlernen durfte, sei es für ein paar Minuten Unterhaltung oder für die Begleitung auf dem Weg. Ihr habt mich so unendlich reich gemacht in dieser Zeit! Danke für euer Interesse, eure offenen Ohren, eure eigenen Geschichten und euer Herz. Ich wünsche euch auf eurem Weg genauso offene und herzliche Menschen und Erfahrungen, wie ihr es für mich wart - damit ihr sie mit nach Hause nehmen könnt und als Schätze sammeln könnt, die euch niemand nehmen kann!
Und natürlich an all die mich von weit weg aus begleitet haben. Ihr seid genauso wichtig, weil ... – ach, ihr wisst schon. Ihr seid halt wichtig.
Hej,
erstmal herzlichen Glückwunsch zu dieser gigantischen Wanderung! :)
Ich habe mich sehr gefreut, dich kennen lernen zu dürfen und 1,5 Tage gemeinsam zu verbringen. Vielen Dank, dass ich dir auch danach noch durch diesen Blog weiter folgen durfte. Und vielen Dank für deinen wunderbaren Schreibstil und deine ehrlichen Worte - ich bin sehr inspiriert :)
Liebe Grüße aus den Alpen
Wiebke