Start: Graddis (28.7.)
Ziel: Sulitjelma (30.7.)
Distanz: 68 km (gesamt: 1609 km)
Zeit: 3 Tage + 1 Pausetag (gesamt: 77)
Status: All you need is a cucumber
Zwei Frühstücke an einem Morgen
Es fällt mir nicht schwer, mich von der Graddis fjellstue zu verabschieden. Auch wenn mir der Ort nicht gut gefallen hat, das Bett war toll. So starte ich den kurzen, aber knackigen Aufstieg über einen Hügel ins Junkerdal mit ordentlich Energie. Oben suche ich mir einen Frühstücksstein mit der zufriedenstellenden Aussicht auf das Saltfjellet, das ich bereits durchquert habe. Keine 200 m nach meinem Frühstücksplatz komme ich an einem Wohnmobil vorbei. Dort sitzt ein Mann neben einem Kocher und fragt mich, ob ich einen Kaffee haben möchte. Eigentlich habe ich gerade erst Pause gemacht, aber so eine Einladung kann ich wohl kaum ausschlagen. Und so lande ich bei Gabi und Bernd, die, als sie erfahren, was sich hier so treibe, mich nicht nur mit Kaffee, sondern nach Strich und Faden mit einem zweiten Frühstück verwöhnen: frischer Joghurt, Früchte, Brot mit Aufstrich ... Eigentlich sehe ich nicht so ausgehungert aus, aber es kommt mir gerade recht: Schon seit Tagen hab ich richtig viel Lust auf frisches Obst und Gemüse. Da ist das hier ist ein unerwartetes Glück! Und wie immer wird zu den materiellen Glücksmomenten ein sehr schönes Gespräch serviert. Das fällt nicht schwer, da Bernd ebenfalls begeisterter Wanderer und Naturliebhaber ist. Wahrscheinlich hätte ich ihm alle meine Vogelfotos zeigen können und er hätte sie auf Anhieb bestimmt ... Vielen Dank euch beiden für die schöne Zeit! Schweren Herzens und Magens verabschiede ich mich nach guten eineinhalb Stunden. Vier Kilometer geschafft und schon ist es elf Uhr! Aber es hat sich wie immer gelohnt. Vor allem mein Herz ist erfrischt und freut sich auf den Mittag im Junkerdal.
Zweites Frühstück mit Bernd und Gabi
Jungle im Norden
Das Junkerdal steht im völligen Kontrast zu den weiten Gletschertälern der vorigen Wochen. Die steilen Felswände zu beiden Seiten zwingen die Natur, sich auf engstem Raum zu entfalten, was diese ausgiebig tut. Es scheint, als würde das überbordende Grün die Felswände auseinanderdrängen wollen. Es überwuchert sie, bis es an der Vertikale scheitert. Die Farben der Blumen leuchten mit den Wegmarkierungen um die Wette und der Pfad hat kaum Platz zwischen den Gewächsen. Ein rauschender Bach in der Mitte des Tals sammelt das türkisblaue Wasser, das zu beiden Seiten die Felsen hinunterrauscht. Es ist ein sehr begrenzter, überschäumender Raum voller Leben und genauso viel Spaß macht es, durch diesen Urwald durchzulaufen. Auch dank der Tatsache, dass es auch hier kaum Mücken gibt, finde ich wieder einen richtigen Flow, den ich dank des vollen Frühstücksbauchs nicht unterbrechen muss, bis ich an der Argaladhytta eine perfekte Badestelle samt Bank für die Mittagspause finde.
Im Junkerdal-Jungle
Zwei Kilometer vor der Balvasshytta werde ich dann von den sehr dunklen Wolken, auf die ich schon seit einiger Zeit zulaufe, ordentlich eingeregnet. Nur, um dann mit einem Regenbogen vom Feinsten beschenkt zu werden, der mitten im See aufhört. Wow! Ich könnte jetzt die goldenen Schüsseln suchen ..., aber dann will ich doch lieber zur Hütte, wo ich meine Sachen trocknen kann.
Dort bin ich mal wieder nicht allein. Die Norwegerinnen Merede und Gitte machen eine Hüttentour und haben morgen das gleiche Ziel wie ich! Abends habe ich das Gefühl, dass ich eher vom vielen Norwegisch-Sprechen todmüde ins Bett falle als von der langen Strecke.
Das Gewinnerbild für den NPL-Kitschpreis 2023
Steine am Morgen vertreiben Kummer und Sorgen
Am folgenden Tag werde ich den Balvannet zur Hälfte umrunden. Hierfür habe ich gleich nach 500 Metern die erste Pause fest eingeplant. Nein, ich will doch nicht die goldenen Regenbogen-Schüssel suchen. Besser: Der Weg von der Hütte zurück zum Hauptweg führt am Strand des Sees entlang, der voller Schiefersteine ist. Manche sind rau und kantig, andere rund und vom Wasser so dünngewaschen, dass man sie in der Hand zerbröseln kann. Es gibt lange, spitze Steine, ein paar bunte dazwischen, alle von den verschiedenen Wasserständen sauber in einzelnen Schichten angeordnet. Sofort verwandle ich mich zum Kind, suche, staple, sammle (obwohl ich weiß, dass ich höchstens einen ganz kleinen mitnehmen kann ... Okay, vielleicht zwei ... Oder drei?), lasse die flachsten Steine übers Wasser springen (wer ist hier im Team "platteln"? Wer will ein anderes Team aufmachen?) und freue mich einfach.
Steine
Mehr Steine
Vormittags kommt die Sonne raus und es wird warm. Da den ganzen Tag eine sanfte Brise weht, bleibt es aber sehr angenehm zum Gehen und mückenarm. Trotz des leichten Weges und guter Stimmung schleppe ich mich aber heute eher durch die kurzen 19 km. Mich quält der berüchtigte Hikers-Hunger, der zwar kurzfristig von den (endlich!!!) reifen Moltebeeren, aber langfristig nur durch eine Übernachtung möglichst nah an einem Supermarkt gestillt werden kann. Der wartet aber erst am Montag auf mich. Also muss ich mir mein Trockenfutter eisern einteilen.
Gut, dass ich hin und wieder Merede und Gitte begegne, an die ich mich dranhänge. Sie vertreiben mit ihrer guten Laune meine körperliche Schlappheit und erinnern mich an meine eigene gute Laune. Denn zurzeit kann ich mich bis auf kleine Durchhänger wirklich nicht beklagen!
Moltebær
Krøkkebær/Krekling = schwarze Krähenbeere, mit viel Vitamin C - ganz gut als Ergänzung zu meiner aktuellen Trockenfutter-Ernährungsform; ersetzt allerdings keinen Gemüse-binge im nächsten Supermarkt!
So macht das alles doch Spaß!
Pausetag im besten Airbnb der Welt
Am letzten Tag bis nach Sulitjelma sind es nur noch 20 km Straße. Die gehen irgendwie vorbei. Sie hätten sich vermutlich viel länger angefühlt, wenn ich gewusst hätte, was für ein Empfangskommando mich in meinem Airbnb erwartet. Ausgeschrieben war ein Zimmer mit Dusche. Dort angekommen werde ich in meine eigene Wohnung geführt, samt Sofaecke, Arbeitszimmer und Küche! Es ist super gemütlich und ich fühle mich sofort wohl. Hier darf ich jetzt endlich, nach 15 Tagen ohne Pausetag, zwei Nächte bleiben. Aber das Beste kommt noch: Vorher habe ich die Vermieterin kurz angeschrieben und gefragt, ob es möglich ist, dass sie mir etwas Gemüse besorgt, weil ich am Sonntag dort ankomme (ja, die cravings sind groß). Was ich bekomme, habe ich nicht erwartet: einen riesigen Teller mit verschiedenem geschnittenem Gemüse samt Dip! Darüber hinaus ein Schälchen mit frischen Erdbeeren aus dem eigenen Garten und zwei Zimtschnecken. So glücklich war ich lange nicht mehr! So gut mein Fertigessen auch war, nicht nur meine Geschmacksknospen, sondern auch mein Magen haben sich über mehr als zwei Wochen Trockenfutter beschwert. Es ist ein Traum, nach so langer Zeit in eine frische Gurke zu beißen!
Gemüüüüüsetraum
Den Rest des Abends und den nächsten Pausetag verbringe ich mit den Annehmlichkeiten der Zivilisation. Eine heiße Dusche, unbegrenztes WLAN, Unabhängigkeit von Wind und Wetter. Und ich mache etwas zum allerersten Mal: Ich darf mir den E-Roller der Vermieter zum Shoppen im Supermarkt ausleihen.
Der Einkauf für die neun Tage bis Abisko macht noch Spaß. Das Rucksack-Tetris danach und vor allem das Gewicht des gepackten Rucksacks weniger. Hilft ja nix, wer Hunger hat, muss schleppen. Ansonsten wird telefoniert und das getan, was mein Körper gerade will: Couchpotato spielen.
Wenn ich solche Dinge lange entbehrt habe und dann wieder Zugang dazu bekomme, sind sie wie ein Magnet. Von allem gibt es plötzlich zu viel. Deshalb fällt es mir oft leichter, auf Hütten ohne Empfang zur Ruhe zu kommen als an meinen Pausetagen.
Wie weit gehen?
Seit dem Wiedereinstieg nach der Pause habe ich oft darüber nachgedacht, wie weit ich denn noch gehen möchte. Ich wollte es mir nach der Pause offenlassen, früher aufzuhören, wenn ich mich danach fühle. Aber wie so oft ist das nicht ganz eindeutig. Tatsächlich ist die Stimmung im Vergleich zur Zeit vor der Pause deutIich nach oben gegangen. Was stattdessen gekommen ist, sind Stimmungsschwankungen. Im einen Moment bin ich mir ganz sicher, am besten heute schon aufzuhören. In anderen Momenten könnte ich bis zum Nordpol laufen. Jeden Tag darüber nachzudenken hat mich zunehmend gestresst. Deshalb hab' ich überlegt, mir ein Mindestziel zu setzen. Das ist aus verschiedenen Gründen erst mal Kilpisjärvi geworden. Von Sulitjelma aus sind das noch etwa drei Wochen.
Natürlich konnte mein Kopf aber nicht dort aufhören, über das Danach nachzudenken. In den letzten Tagen hat sich die Vorstellung immer besser angefühlt, Kilpisjärvi auch als Endpunkt festzulegen. Denn ich kann mir vorstellen, dass ich die Zeit bis dahin besser genießen kann, wenn ich mich dann verabschiede. Und Genuss darf auf dieser Tour gerne noch etwas dazukommen.
Wer definiert, was ein Diamant ist?
Wenn ich mich beobachte, wie ich dieselben "Fehler" immer wieder mache, immer wieder in ähnliche Situationen gerate, weil ich zu schnell sein will, weil ich Angst habe, weil ich Dinge nicht verstehe oder verstehen will, habe ich manchmal das Gefühl, nie zu lernen.
Vielleicht habe ich ja wirklich nicht viel gelernt. Aber ich glaube, ich verstehe ein kleines bisschen besser, worum es eigentlich geht. Ich verstehe, was ich eigentlich lernen möchte. Was wichtig ist, über diese Reise hinaus. Vielleicht ist das gar nicht (nur), die schönen Momente zu sammeln wie Edelsteine, die ich anhäufen und an denen ich den Wert meiner Reise messen kann. Vielleicht ist es viel wichtiger, alle Steine zu betrachten, sie anzufühlen, zu verstehen, warum ich manchen Steinen einen höheren Wert zuschreibe als anderen. Über den Steinstrand zu gehen mit dem Wissen, dass er nur existiert, weil alle Steine da sind. Nicht nur die, die ich mir gerne in die Tasche stecken will. Und vielleicht ist es dann das Wichtigste, die Steine zu ehren, die halt gerade auf meinem Weg liegen. Und bei mir zu bleiben, egal wie es sich anfühlt, über diese Steine zu steigen.
Trailsound 13: Parra for Cuva "Paspatou" (https://youtu.be/DY4EcyPkJ6c) - für die Seele und die Sehnsucht
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