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Kathi

Kapitel 11: Auf und Ab in Seele und Natur

Start: Hattfjelldal (16.7.)

Ziel: Umbukta (21.7.)

Distanz: 128 km (gesamt: 1401 km)

Zeit: 6 Tage (gesamt: 67)

Status: Wenn es Angst macht, ist es einen (zweiten) Versuch wert



Quälende Anreise zum Neustart


Genau zwei Monate ist es her, dass ich in Lindesnes losgelaufen bin. Und heute soll es wieder losgehen. Wie beim ersten Mal mit öffentlicher Anreise und einem Hitchhike an einer spärlich befahrenen Straße, vom winzigen Ort Trofors nach Hattfjelldal.

Im Zug von Trondheim nach Trofors fühle ich mich mulmig. Warum fahre ich jetzt schon wieder in diese Richtung? Mein Herz und mein Kopf streiten immer noch. Mein Kopf hat entschieden, dass ich mich fürchterlich ärgern werde, wenn ich der Tour nicht noch eine Chance gebe. Dass ich es bereuen werde, wenn ich zu Hause sitze und mich frage, wo ich gerade langlaufen würde, wenn ich nicht aufgegeben hätte. Mein Herz dagegen sagt, dass es eigentlich immer noch am liebsten nach Hause möchte. All die wichtigen Menschen sehen, die es so lange schon vermisst. Und so fühle ich mich ziemlich miserabel, als ich an der Straße bei grauem Wetter den Daumen hochrecke und alle 5 Minuten ein Wohnmobil vorbeikommt, von denen man grundsätzlich nichts erwarten kann. Nach einiger Zeit habe ich Glück und eine Frau aus der Gegend nimmt mich mit.

Die Stimmung wird deutlich besser, als ich endlich wieder losgehen kann. 18 km Straße nach Tverrelvnes, wo mein zweites Paket wartet. Es nieselt leicht und irgendwie bin ich plötzlich sehr froh, wieder draußen zu sein und mit meinem Rucksack auf dem Rücken einen Fuß vor den anderen zu setzen.


Ein kleines Stück Gemütlichkeit


Als ich in Tverrelvnes ankomme, werde ich von den Garsmarks herzlich empfangen, mit Kaffee und "boller", eine Art kleine Milchbrötchen, die mit brunost und Marmelade serviert werden. Dann ziehe ich in meine Hütte ein und packe mein Paket aus. Außerdem gibt es hier eine Dusche, die ich vor allem nutze, um mich innerlich wohler zu fühlen. Nach einem Telefonat und dem Abendessen geht es mir doch ziemlich gut und ich schaue einigermaßen zuversichtlich den nächsten Tagen entgegen.


Back to Outdoor-Isolationshaft?!


Am nächsten Tag ist Regen angesagt, aber außer leichten Schauern bleibe ich von Nässe-Attacken verschont. Die Landschaft wird oben karg, weit und sieht mit den tief hängenden Wolken noch etwas imposanter aus.

Die Wanderung vergeht schnell und bald stehe ich vor der Krutvasshytta. Die offene Hütte wird vom Statskog unterhalten und kann kostenlos genutzt werden. Ich bin erstaunt, wie sauber und komfortabel sie ist. Es gibt einen Tisch mit Stühlen, einen Ofen, einen Gasherd, Geschirr und zwei kleine Zimmer mit bezogenen Betten. Daneben eine kleine Hütte mit einem Plumsklo und Feuerholz. Abgesehen von der fehlenden Sofaecke steht sie den DNT-Hütten in nichts nach. Ich hole Wasser und bin stolz, dass ich den Ofen anbekomme. Feuer ist nicht gerade mein Element, aber mit Wasser kann man halt leider keine Kleidung trocknen.

Und dann passiert etwas Erstaunliches: Ich bekomme Besuch! Lukas ist 19 Jahre alt und hat eben sein Abi in Frankfurt gemacht. Er möchte seinen Onkel auf den Lofoten besuchen und wollte vorher ein paar Wochen wandern gehen. Die nächsten Tage haben wir sogar denselben Weg. Das heißt, endlich mal wieder eine Trailbegleitung!


Die offene Hütte vom Statskog, sauber und gemütlich, samt Ofen, Küche mit Gasherd und Betten mit Bettzeug!


Ochs-tindern??!? Neeeein, Okstindan!


Am nächsten Morgen starten wir gemeinsam. Es ist schön, mal hinter jemandem herzulatschen, und noch viel schöner, Freude zu teilen. Etwa über die Rentiere, die tiefenentspannt direkt vor uns den Weg kreuzen. Die Tage danach gehen wir immer wieder Strecken gemeinsam. Wir staunen über die erste Aussicht auf den imposanten Okstindan, einen Plateaugletscher (die Geographin in mir muss manchmal solche Begriffe raushauen, sonst fühlt sie sich so vergessen ...).

Ein Zeltplatz mit Aussicht auf die Ostseite des Gletschers ist auch drin. Zumindest, bis mich abends die Mücken fressen ...


Die erste Aussicht auf den Okstindan mit Lukas


Zelten mit Aussicht auf den Okstindan


Pause am Gletscher


Ein paar Sümpfe und einige Mückenstiche später ist es endlich so weit: Nach einem Aufstieg in fantastisch karge Steinlandschaft taucht die Gletscherzunge direkt am Weg auf. Lukas ist irgendwo hinter mir, aber bis ich in den Gletschersee gesprungen bin und einen schönen Platz mit feinster Aussicht gefunden habe, kommt er auch um die Ecke. Dann sitzen wir einfach da und staunen. Man hört nichts außer einen tosenden Bach, der in der Ferne die Felswände hinunterkracht. Es weht ein Wind, der alle Viecher verscheucht. Das von Spalten durchzogene Eis endet in einem türkisfarbenen See, der sich in braun-graue, abgeschliffene Felsen schmiegt. Man sieht, wo der Gletscher mal lag, wo er sich seinen Weg durchs Gestein gesucht hat, man sieht die Spuren, die das Eis hinterlassen hat. Irgendwann mal war da, wo wir jetzt sitzen, tonnenweise Eis. Immer wieder staune ich darüber, dass Wasser Steine schleifen kann. Welch eine Kraft!


Fast zwei Stunden sitzen wir hier, und als auch noch die Sonne rauskommt, döse ich auf dem Felsen ein. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal eine so lange, ungestörte Pause machen konnte. Seit Wochen halten mich Mücken und Fliegen davon ab. Diese Pause an diesem Ort ist wie ein Diamant. Ein eisiger, sonniger, stiller, friedlicher, sehr seltener Diamant. Ich darf ihn für eine Weile tragen, bis ich ihn schweren Herzens ablege, um weiterzugehen.


Hier fällt mir auf, dass es unmöglich ist, die Anstrengung und die Probleme dieser Tour gegen die schönen Momente aufzurechnen. Man kann nicht dem Gletscher 100 Punkte geben und den nassen Schuhen je 30, den Mücken pro Stück einen Punkt, und dann sagen, das rechnet sich nicht. Man kann nicht sagen, wie viele solcher Momente es geben muss, damit sich die Mühen lohnen. Ich kann nur im Nachhinein sehen, dass es offensichtlich genug dieser Momente gab, um weiterzugehen und nicht aufzugeben. Das Einzige, was für uns zu tun bleibt, ist, diese Momente auszukosten. Nicht an die Mühen danach zu denken, sondern uns fallen zu lassen in das, was uns geschenkt wurde. Denn es gibt keine Belohnungen auf diesem Weg. Für drei Wochen nasse Schuhe bekommt man nicht drei Wochen schöne Ausblicke ausgezahlt. Die schönen Momente kommen zufällig, manchmal unerwartet. Und nur wenn wir sie nicht abwägen gegen das andere, wenn wir nicht versuchen, sie zu quantifizieren, zu vergleichen oder auf einer Skala einzuordnen, können sie uns das schenken, was in ihnen steckt: Frieden.


Morgen möchte ich in Umbukta einen halben Pausetag machen. Dafür muss ich heute noch etwas Strecke machen. Lukas beschließt, sich hier oben einen Zeltplatz zu suchen. Ich bewundere ihn für seine Gelassenheit, das einfach mittags zu beschließen. In seinem Alter hab' ich meine erste Weitwanderung gemacht und war nicht halb so entspannt. Gut, dass sich daran viel geändert hat. Überhaupt finde ich es mutig, dass er alleine einfach losläuft. Wir verabschieden uns vorerst. Auf dem weiteren Weg muss ich immer wieder Pause machen, um mich noch mal umzudrehen und einen Blick zurück auf das gewaltige Gletschermassiv zu werfen.


Ein wirklich glücklicher Moment!


Und weil so schön war, noch mal mit See!


Auf dem Weg nach Umbukta sehe ich wieder ein paar Moorschneehühner mit ihren Jungen, die aufgeschreckt davonrennen, als ich komme. Langsam verstehe ich die Taktik. Die erwachsenen Tiere fliegen nicht davon, sondern bleiben am Boden und laufen gut sichtbar weg, um die Aufmerksamkeit auf sich und weg von den Jungen zu lenken. Erst wenn ich weit genug weg bin, fliegen sie selbst weg. Welch eine Aufopferung!

Die letzten Kilometer vertreibe ich mir die Zeit, indem ich mich selbst als Sportkommentatorin anfeuere ("Schafft sie es bis zur Ziellinie? Nur noch drei Kilometer! Sie sieht immer noch fit aus! Das wird ein Auswärtssieg!"). Was einem halt so einfällt nach guten zwei Monaten Langeweile im Kopf ... Mit dieser Taktik erreiche ich vormittags Umbukta und bekomme dort nicht nur mein drittes Paket, sondern als NPL-Läuferin auch eine kostenlose Übernachtung! Die größte Freude ist allerdings, dass die nette Frau mir zu dem Burger eine extra Portion Gemüse macht.


Wieder blicke ich mit gemischten Gefühlen auf die nächsten sechs Tage bis zu meinem letzten Versorgungspaket. Wie wird es mir gehen? Ich muss losgehen, um das zu erfahren.


Pause ... mit Abschied vom Gletscher


Die winzige Grasfjellkoia vor Umbukta



Spannung zwischen den Polen


Das Anstrengende an diesen Tagen sind die Stimmungswechsel. Ich habe Momente, in denen es leicht ist, zu gehen, in denen ich mich über Dinge freuen kann. Und ich begegne dunklen Ecken. Besonders morgens hinterfrage ich alles, bin es Leid, jeden Tag dieselben anstrengenden, unangenehmen Herausforderungen zu haben. Jeden Tag nasse Füße, von morgens bis abends. Jeden Tag Mücken, Fliegen, die Pausen und Freuden begrenzen. Und Momente, in denen alles keinen Sinn macht, die ganze Tour. Ich versuche, der Empfehlung von Simone und Stefan zu folgen: Einfach nicht mehr nach dem Sinn fragen! Aber leichter gesagt als getan. Dieses ständige Auf und Ab lässt mich schwer zur Ruhe kommen. Ein bisschen hilft es, dass ich mir zum festen Ziel setze, auf jeden Fall bis nach Kilpisjärvi zu laufen. Das sind gute vier Wochen. Das soll mein nächster Entscheidungspunkt sein. Dann muss ich wenigstens nicht mehr jeden Tag darüber nachdenken, wie weit ich noch gehen will. Damit geht es mir schon mal etwas besser.


Eines kann ich sicher sagen: Ich bereue den zweiten Versuch nicht. Es ist deutlich besser, als ich befürchtet habe. Und ich fühle mich jetzt schon wie eine Siegerin. Allein, weil ich weitergegangen bin.


Die Sinnfrage und die Quälfrage


Auch wenn ich mir vorgenommen habe, sie mirnicht mehr zu stellen, jagt sie mich; die Frage nach dem Sinn. Und es gibt eine einzige vernünftige Antwort, die ich bisher darauf gefunden habe: Lebenswille. Der Wille, zu leben. So richtig, samt allem, was das Leben für uns bereithält. Dafür ist es manchmal nötig, die dunklen Seiten zu erforschen. So weh es tut, wir brauchen die Dunkelheit, um das Leben als Ganzes zu erfahren. Das treibt uns an, wenn wir uns immer wieder freiwillig in solche Situationen bringen. Lebendigkeit lebt von den Polen und kommt nicht ohne Schmerz aus. Allerdings: Manchmal müssen wir warten, bis die Dunkelheit vorbei ist, um das zu verstehen.


Gleichzeitig frage ich mich regelmäßig, was es bedeutet, gut zu mir zu sein. Ich bin mir sicher, dass das nicht immer der Weg des geringsten Widerstands ist. Denn gut zu mir zu sein heißt auch, mir Gelegenheiten zum Wachsen zu bieten. Dafür muss ich manchmal länger aushalten als mein Schweinehund Lust hat. Aber wie weit muss ich mich quälen? Wo ist die Grenze? Ich fürchte, dafür gibt es keine Regeln. Vermutlich gibt es nicht mal ein Richtig oder Falsch. Vielleicht gibt es den einen oder anderen Ausgang, in dem je andere Werte oder Bedürfnisse im Vordergrund stehen. Ansonsten? Habe ich die Freiheit und die Aufgabe, das "Richtige" für mich selbst herauszufinden.


Letztendlich ist es auch immer Neugier, die mich etwas weiter gehen lässt, als es angenehm ist. Und hinter dieser Neugier finde ich eine Art Grundvertrauen darin, dass das, was mir passiert, etwas Gutes für mich bereithält. Das steht im Kontrast zu meinen Gedanken, die in solchen angespannten Situationen eher zum Grübeln und Schwarzmalen neigen. Ich bin sehr froh, dass es meistens sehr klar ist, dass ich lieber auf meine Neugier höre.



Ein paar Bauern..., äääh, Wanderweisheiten für den NPL

(ein Auszug aus den diversen Strategien, die ich mir zurechtgelegt habe, wenn meine Gedanken sich mal wieder in irgendwas verheddern ...)


"Liegen Holzbohlen bereit, so ist die Hütte nicht mehr weit."


"Gehst du in den Wald hinein, wirst du der Mücken Opfer sein. Gehst du aus dem Wald hinaus, so ist es lange noch nicht aus. Denn weht kein Wind an diesem Ort, dann geh'n die Mücken auch nicht fort."


"Regnet es viel in der Nacht, wird der Sumpf zum See gemacht. Regnet es noch viel viel mehr, werden Bachquerungen schwer."


"Gehst du hungrig Essen kaufen, musst du mit zu schwerem Rucksack laufen."


"Pflückst du genug Moltebeeren, wirst du nicht an Skorbut sterben." (Okay, das war mein schlechtester Reim seit Langem!)


"Steht dein Zelt nicht ganz gerade, findet der Rücken das wirklich schade."


"Gibt es Mücken im Überfluss, ist Wandern wahrlich kein Genuss. Sind die Mücken aber rar, ist Wandern wirklich wunderbar!"




Trailsound 11: Ladysmith Black Mambazo, feat. Ramdaz, Stanley Glori "Run (Life is a marathon)" (https://youtu.be/qdGqvXdCoKY) - weiterlaufen!

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